Walter Leimgruber
Wenn ich die Menschen anschaue, die ich in den letzten Jahren erforscht habe, Menschen, die aus der Schweiz ausgewandert sind, stelle ich fest, dass ihre Reise dorthin geht, wo sie hingehen wollen. Was für eine banale Tatsache, werden Sie jetzt sagen, das ist doch wohl selbstverständlich. Dem würde ich widersprechen. Denn es gab wohl noch nie eine Zeit und eine Gesellschaft, in der so viele Menschen einfach dorthin gehen konnten, wo sie hinwollten. Diese Gesellschaft, das heisst hier die reichen Gesellschaften Europas und Nordamerikas, dazu Australien und Neuseeland. Denn nur für sie gilt der Befund. Dass fast alle anderen Menschen nicht einfach dorthin gehen können, wo sie wollen, ist eine der grossen politischen Herausforderungen unserer Zeit, für die niemand eine Lösung zu haben scheint, so dass der Ruf nach dem Bau von Mauern von vielen unterstützt wird. Als ob solche Mauern schon einmal Erfolg gehabt hätten. Doch der römische Limes wie die grosse chinesische Mauer haben ihre Funktion nicht erfüllt, sind überrannt worden von Menschen, die in den einst mächtigen, dann aber geschwächten Reichen ein neues, besseres Leben vermuteten. Doch nicht davon will ich schreiben, sondern eben von den anderen, die dorthin reisen, wo sie hinwollen, den Privilegierten.
Es ist faszinierend zu sehen, an welche Orte diese Menschen reisen, nicht als Touristen, sondern um sich ein neues Leben aufzubauen, als Migrantinnen und Migranten. Nein, kein neues Leben, in dieser Dimension denken nur die wenigsten, zunächst mal geht es um eine neue Lebensphase. Für eine Lebensphase anderswo hingehen, eine verrückte Idee verwirklichen oder auch nur eine zugesagte Stelle annehmen, sich weiterbilden oder der Liebe folgen. Sie alle gehen weg aus einem Land, in das, so glauben es zumindest viele Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes, alle anderen hinwollen: Die Schweiz (die aber auch als Beispiel steht für alle reichen Länder). Und in der Tat, in Umfragen von Expats und anderen Statistiken steht dieses Land immer wieder ganz oben: hohes Einkommen, hohe Lebensqualität, hohe Sicherheit, hohe … Alles scheint gut, hier lässt es sich leben. Und von da wollen also alle diese Leute weg! Wieso bloss, kann es anderswo besser sein?
Die Antwort der Menschen, die gehen, ist nicht die Antwort vieler Bleibender, die durchaus Kritisches zu sagen haben: Langweilig, nichts bewegt sich, alles ist überorganisiert, überstrukturiert, überwacht. Fehlender Mut, fehlende Risikobereitschaft, fehlender Humor. Diese Meckereien sind ebenso eintönig wie das hohe Lied, das andere singen. Die Weggehenden sagen aber andere Dinge: Sie sehen das Land, das die verlassen, durchaus positiv, sind froh, eine gute (und nicht teuer bezahlte) Ausbildung erhalten zu haben, sehen das Land auch weiterhin als Versicherung, wenn alle anderen Pläne nicht funktionieren, wenn etwas schiefgeht. Aber sie wollen mehr: Sie wollen nicht den guten Job und das gute Leben, die sie in der Schweiz ohne weiteres haben könnten, sie wollen den besseren Job und das bessere Leben anderswo. Nicht besser im Sinne von ertragreicher — höhere Löhne dürften schwer zu finden sein — sondern besser im Sinne von herausfordernder. Nicht besseres Leben im Sinne von ruhig, geordnet, stabil, sondern im Sinne von überraschender, aufregender, spannender.
Ein Grossteil der Menschen, die gehen, ist jung, ist gut ausgebildet, ist weiblich. Und befragt man diese Menschen, stellt man fest, dass sie in der Regel mutig, risikobereit, kontaktfreudig, flexibel und krisenerprobt sind — oder es im Laufe ihrer Reise werden. Es sind Menschen, die zwar häufig nicht genau wissen, wohin die Reise geht, die aber wissen, dass die Reise das Ziel ist. Die Reise ermöglicht ihnen, etwas Neues auszuprobieren, etwas Unbekanntes zu erfahren, etwas Fremdes kennenzulernen, etwas Gefährliches zu wagen, etwas Schönes zu geniessen. Manchmal wissen sie, wenn sie losfahren, noch nicht, was das Neue, Unbekannte, Fremde, Gefährliche, Schöne sein wird, sie haben vielleicht eine Idee, eine Vorstellung, mehr nicht. Aber sie wissen, dass es zu suchen gilt. Nicht immer ist diese Suche von schnellem Erfolg geprägt; in den Geschichten erzählen die Reisenden von mehr Rückschlägen, einem grösseren Auf und Ab, als in der Schweiz zu erwarten gewesen wäre, erzählen vom Neubeginn, vom Ausprobieren, Umorientieren, Improvisieren und vom Scheitern. Aber es sind keine Heldengeschichten, keine Abenteuergeschichten, sondern ganz einfach Geschichten von Reisen, die dorthin führen, wo man hinwill. Auch wenn man am Anfang gar nicht gewusst hat, wo das ist. Und auch wenn das manchmal wieder der Ursprungsort sein kann. Denn nach der Reise ist auch dieser Ort ein anderer, die Reise verändert nicht nur den Reisenden, sondern auch den Abgangsort.
Und so leben wir denn in einer Welt, die geprägt ist von zwei Formen von Reisen: Den Reisen, die man machen will, und den Reisen, die man machen muss, aber häufig nicht kann. Und beide prägen sie das Bild der Welt, wenn auch die beiden Reisegruppen sich auf ihrem Weg kaum berühren. Beide zeugen aber von der Bedeutung des Reisens in einer Gesellschaft, die immer noch so tut, als sei Sesshaftigkeit das Normale und als sei das Reisen eine blosse Freizeitbeschäftigung, nicht das wesentliche Merkmal unserer Zeit. Beide zeugen daher auch von einer Gesellschaft, die offensichtlich nicht weiss, wohin die Reise geht. Und der deshalb der Mut fehlt, diese Reise zu machen.