Zita Breu
Der Wendekreis des Steinbocks ist der südlichste Breitengrad, an dem die Sonne gerade noch den Zenit erreicht. Er liegt bei 23° 26′ 5″. Ein mythischer Ort! Er schneidet Südafrika, Botswana, Brasilien und Australien. Es gibt zwar keine Steinböcke, die an diesem Breitengrad leben, wohl aber Löwen, Zebras, Giraffen, Emus und Lamas.
Die ganze Nacht habe ich aus dem Flugzeugfenster geschaut. Johanna neben mir, erschöpft von der Reise, schläft schon tief. Ich aber kann nicht schlafen — die Aufregung, zum ersten Mal Afrika zu sehen, ist zu groß. Unter mir nimmt die Dunkelheit zu. Ich kann die Küsten des Mittelmeeres erkennen, Straßen und Städte sind gut erleuchtet. Kaum ist die Küste passiert, starre ich in Schwärze. Sizilien? Eine vage Ahnung. Noch eine halbe Stunde lang überfliegen wir das Mittelmeer, dann kommt langsam die afrikanische Küste in Sicht. Der Unterschied ist enorm: die Städte und Straßen sind nur noch spärlich beleuchtet, die Lichter der Ausfallstraßen enden an den Stadtgrenzen, ihr weiterer Verlauf lässt sich nur mehr erahnen. Nun folgt unendliche, bodenlose Dunkelheit. Wir überfliegen Afrika, und die Bezeichnung des sogenannten »Schwarzen Kontinents« erschließt sich mir plötzlich auf ganz neue Weise. Aber sieht man wirklich gar nichts mehr? Nach längerem Schauen meine ich Dünenverläufe und Berge zu erkennen. Dann und wann, nur mit wenigen Lichtern markiert, eine Oase. Die Landschaft verändert sich unmerklich: Die Schwärze nimmt zu, die Wüste endet, der Dschungel beginnt.
Mit der Zeit sitze ich verkrampft und meine Augen schmerzen vom Starren in die Tiefe. Johanna ist wach geworden. Gemeinsam studieren wir die Reiseprospekte im Flugzeug und schwelgen gemeinsam schon in Gedanken an die nächste exotische Reise.
Ich schau wieder raus. Die afrikanische Küste unter uns endet mit Felsen, die in der Dunkelheit leicht leuchten. Wir überfliegen den Indischen Ozean, der in dieser Nacht sehr unruhig, fast sturmgepeitscht ist. Wieder sieht man kaum etwas. Doch langsam wird es heller und der Sonnenaufgang kündigt sich an. Immer noch Meer unter uns, der Wendekreis des Steinbocks ist noch nicht erreicht, da beginnt das Flugzeug langsam den Sinkflug.
Zwei Monate bevor wir in dieses Flugzeug gestiegen sind, hatten Justin und Johanna mir verkündet, dass Paula sich ganz alleine einen Schüleraustauch organisiert hat — in Frankreich, in einer Région d‘Outre-Mer. »Stell Dir vor, sie will nach Réunion. Ja — da müssen wir sie doch besuchen! Kommst Du mit?«, fragte Johanna. Klar war ich dabei. Wann würde sich denn sonst je wieder eine Gelegenheit für so eine verrückte Reise bieten!
Wir landeten schließlich in Saint-Denis, der Hauptstadt von La Réunion, und fuhren mit einem Mietauto nach Süden, um die halbe Insel herum in die Küstenstadt Saint-Pierre, wo oberhalb — in Le Tampon — Paulas Schule lag. Das Wiedersehen mit Paula war natürlich herzerwärmend und wurde denn auch gleich gefeiert mit unserem ersten Besuch des Strandcafés und einem wunderbaren kreolischen Essen.
Organisiert von der überaus hilfreichen Gastfamilie Paulas, hatten wir ein ganzes Häuschen für uns alleine zum Wohnen. Wobei: ganz alleine stimmt nicht — Zorro war auch da. Und ein Kater will gefüttert werden. Die ersten Tage war er etwas schüchtern. Bald aber nahm er Besitz von meinem Koffer (ideale Wohnung für sämtliche Nickerchen) und im Laufe der zwei Wochen hatte er sich so an mich gewöhnt, dass er richtig schmollte, als ich packen wollte, und sich schnurrend an meinen Rücken legte.
Alle Fotos © Zita Breu, April 2012
Vom ersten Abend an waren wir wohlig umfangen von der feuchten Wärme, berauscht von den neuen Gerüchen und den unterschiedlichsten Geräuschkulissen, die wir erst nach geraumer Zeit zuordnen konnten. Die für mich aufregendste Geräuscherfahrung war jene der Meeresbrandung. Wie unterschiedlich verhält sich diese je nach Küstenabschnitt und Wetterstimmung! Im Süden, am Cap Méchant, braust sie ohrenbetäubend gegen die Felsen, was Johanna und mir Schauer über den Rücken laufen ließ.
La Réunion ist eine Vulkaninsel. Den Stränden sind streckenweise Korallenriffe vorgelagert. Wo diese Riffe fehlen, ist der Küstensand fast schwarz und man kann, wenn die Sonne scheint, barfüßig nicht auf ihm stehen, so heiß wird er. Wenn es jedoch Riffe gibt, brechen sich die Wellen an diesen unter gewaltigem Tosen. Das Meerwasser spült feinzerriebenen weißen Korallensand ans Ufer, wo er sich mit dem schwarzen Sand des Vulkangesteins mischt.
Am Donnerstag hatte Paula Geburtstag. Da sie sich schulfrei nehmen konnte, verbrachten wir den ganzen Vormittag am Strand. Johanna überraschte sie mit einem lustigen Paket aus schönen Fundstücken, erfindungsreich mit Gratiszeitung, Glitzerband, Strandblume und Koralle verpackt.
Mich haben auf La Réunion hauptsächlich die unglaublich vielen endemischen Pflanzen- und Tierarten fasziniert, denen man auf Schritt und Tritt begegnet. Besonders der Fischreichtum hat mich begeistert. Die Fische waren alle sehr zutraulich, bewegten sich auf uns zu, wenn wir schwammen und hätten gerne ein bisschen an unseren Füßen herumgeknabbert. Am besten gefallen haben mir die verschmitzt dreinschauenden, fast durchsichtigen, wasserblauen Fische, die als Zierde knapp vor der Schwanzflosse einen schwarzen Punkt trugen, ohne den man sie wohl übersehen hätte. Eigentlich war es ganz leicht, auf Fische zu treffen. Man musste bloß ein, zwei Meter ins Wasser gehen, sich flach hinlegen und hinuntergucken. Die meisten Fische fanden sich dort, wo irgendwelche Erhebungen oder Hindernisse lagen, zum Beispiel Steine, ein kleines Korallenriff, Bojen, Ankerketten.
Unvergleichlich war es auch, uns bereits bekannte Früchte zu essen und festzustellen, dass ihr Geschmack um ein vielfaches intensiver war, da hier die Früchte reif geerntet wurden. Ananas, Mangos, Maracujas, Papayas und auch die Drachenfrucht, mit ihrer Schale in leuchtendem Rosa, zerschmolzen einem richtiggehend auf der Zunge. Auf einem Markt haben wir ein paar Hände voller süßer Früchte erstanden und waren sogar mutig genug, ein paar exotische Stücke mitzunehmen. Die Verwendung mancher dieser Früchte, zum Beispiel des Schraubenbaums (Pandanus tectorius), blieb uns allerdings ein Rätsel…
Die réunionnaisische Tierwelt faszinierte sowohl Johanna als auch mich. An einem besonders heißen Tag besuchten wir den botanischen Garten Mascarin, Jardin des Colimaçons, in Saint-Leu. Wir erholten uns im Schatten der Bäume neben dem Restaurant des Gartens. Da wir lasen, es solle in diesem Garten auch Chamäleons geben, wir aber bislang keines gefunden hatten, fragte ich den Inhaber des Restaurants, ob er wüsste, wo wir am ehesten welche zu Gesicht bekämen. Klar, meinte er: Er habe gerade diesen Morgen im Busch neben der Küche ein Pärchen gesehen. Er ließ Töpfe und Pfannen stehen, kam mit uns und zeigte uns den Busch — und tatsächlich, da war eines! Auch große Meeresschildkröten haben wir gesehen, mit ausgefallenen Musterungen. Die Aufzucht von Jungtieren faszinierte Johanna besonders.
An der Ostküste der Insel, in Bras-Panon, liegt die Coopérative Pro Vanille, ein Zusammenschluss von etwa hundertzwanzig Bauernfamilien der Insel, die wir an einem der Tage besuchen konnten. La Réunion hieß früher Île Bourbon, und deshalb nennt man die dort kultivierte Vanille noch heute Bourbon-Vanille. Die Vanillepflanze ist eine lianenartige Orchidee, die sich auf Bäumen emporschlängelt. Hier werden sie meist neben Yuccapalmen gepflanzt, bzw. an diesen hochgezogen. Aus der Frucht der Vanille essbare Vanillestängel zu machen, ist ein aufwändiger Prozess, der ein gutes Jahr dauert. Die Bauern liefern der Coopérative das Grundmaterial, die grünen Vanilleschoten. Diese kommen ein paar Minuten in kochend heißes Wasser und werden auf über Gitter gelegten Tüchern gedämpft; dabei entsteht bereits die dunkelbraune bis schwarze Farbe. Nun folgt ein langer — fast neun Monate dauernder Trocken- und Nachreifeprozess. Nach dieser Prozedur werden die Schoten auf ihren Trockenheitsgrad überprüft und zu Bündeln verschnürt. Das Ganze ist sehr spannend und man versteht im Nachhinein gut, weshalb der Preis der echten Vanille ziemlich hoch ist.
Im Laufe unseres vierzehntägigen Aufenthalts entdeckten wir rund um die Insel die verschiedensten Gelände und Küstenformationen. Der Vulkan Piton de la Fournaise, einer der höchsten Vulkane der Welt (7000m ab Meeresgrund) ist aktiv und hält den ganzen Südostteil der Insel in Atem. Die rund um die Insel führende Straße zieht auch durch dieses Gebiet. Links und rechts der Straße dampfen verglühende Lavahaufen. Da und dort sieht man rotglühende Brocken durchschimmern. Natürlich darf auch die Madonna an diesem Ort nicht fehlen! Eine Marienstatue mit blauem Umhang und blauem Regenschirm thront über einer Anhöhe. Vielleicht hilft sie, die kleinen Verkaufstische der kreolischen Händler zu schützen, die hier Souvenirs anbieten.
»Vulkan-Madonna« unter dem Piton de la Fournaise
Den krönenden Abschluss unserer Reise bildete eine zweitägige Bergwanderung mit Übernachtung im Talkessel von Mafate, einem erloschenen Vulkan. Die ihn umgebenden Gebirgskämme sind steil, ja schroff, und der Talkessel, in dem sich einige kleine bewohnte Weiler befinden, ist nur zu Fuß zu erreichen. Einmal pro Woche kommt ein Helikopter und holt die Post ab.
Jeanne, die umtriebige Tante von Eloïse, Paulas Schüleraustausch-Kollegin, hatte alles im Voraus fantastisch organisiert und begleitete uns auf diesem zweitägigen Fußmarsch samt Übernachtung im Mafate.
Frühmorgens brachen wir auf und fuhren zum Col des Bœufs. Nach einem kurzen Aufstieg überquerten wir den Grat und blickten bereits tief unter uns in die Kraterwelt. Die Wege waren schmal, steinig und teils etwas rutschig, jedoch trotz allem gut begehbar. Es folgte eine mehrstündige Talwanderung, die ganz schön in die Knie ging. Da es aber unterwegs so viel zu staunen gab, kam man auch immer wieder zum Stehen, Schauen, Fotografieren. Eine atemberaubende Vielfalt von Pflanzen war zu entdecken, manche davon, wie die Feuilles de la Vaisselle, existieren nirgendwo sonst auf der Welt als in eben diesen Talkesseln.
Abends empfing uns ein gemütliches Holzblockhaus mit Stockbetten, in dem uns Jeanne angemeldet hatte, und ein wunderbares kreolisches Essen, gemeinsam mit allen anderen Wanderern, die in dem Haus nächtigten. Nach dem Essen wurde selbst gebrannter Rhum de Mafate ausgeschenkt. Johanna, Jeanne und ich ließen ihn uns so lange schmecken, bis wir rosa Wangen hatten.
Wohin geht die Reise? Uns führte sie 2012 zum südlichen Wendekreis nach La Réunion. Wohin wird die nächste Reise führen? Vielleicht in ein ebenso schönes, ebenso exotisches Land, vielleicht Mayotte.
Wer weiß?
Abendstimmung am Hafen von Saint-Pierre