Lea Haller
Je n’aime pas les gens qui sont si fort les maîtres de leurs pas et de leurs idées, qui disent :
« Aujourd’hui, je ferai trois visites, j’écrirai quatre lettres, je finirai cet ouvrage
que j’ai commencé. »
Xavier de Maistre, Voyage autour de ma chambre, 1794
L’avenir est trop immense pour qu’elle l’imagine, il arrivera, c’est tout.
Annie Ernaux, Les années, 2008
Wohin geht die Reise? Wer die Frage rein geografisch versteht, als Fahrt von hier nach dort, verpasst ihren existenziellen Kern: Reisende sind wir immer, wir reisen von der Geburt in den Tod. Wir kommen irgendwoher und gehen irgendwohin, selbst wenn wir gefühlt in Unbeweglichkeit verharren. Die Zeit ist der Motor dieser Reise, deren Ziel wir nicht kennen und die uns zu historischen Wesen macht, zu Menschen mit einer Geschichte. Erst im Nachhinein lässt sich diese Geschichte zu etwas scheinbar Kohärentem verdichten: zu einem Werdegang, einer Biografie. Hand aufs Herz: Was wissen wir schon über unsere Reise? Über die tausend kleinen und die wenigen grossen Abzweigungen, die wir genommen haben und die uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind, mitsamt unserem Gepäck und unseren Reisegefährten? Wieso sind wir hier gelandet und nicht anderswo?
Von allen Formen des Unterwegsseins ist die biografische Reise die wohl am schwersten zu deutende. Wir werden in ein bestimmtes soziales Milieu geboren (eine Familie meist), wir wachsen irgendwie auf, wir absolvieren die obligatorische Schulzeit (und vielleicht noch ein bisschen Schule darüber hinaus), wir schliessen Freundschaften und üben das Scheitern, erfahren Fürsorge und Gewalt, wir werden mit Weltdeutungen, Haltungen und Werten konfrontiert, wir lernen einen Beruf oder auch nicht – und am Ende werden wir das, was wir sind. Es gibt Wege, die verlaufen relativ geradlinig, oder zumindest wirkt es so, weil die Biografie in etwa dem Bild entspricht, das man von aussen als Erwartung auf sie projiziert hat. Und es gibt Biografien, die fallen aus dem Rahmen, weil sie Grenzen überschreiten – soziale, kulturelle und geistige, Grenzen, die für das Milieu, aus dem wir kommen, Begrenzungen der subjektiv erfahrbaren und vorstellbaren Welt waren.
Es ist viele Jahre her, dass mich eine Mentorin – ihr Name ist Johanna Rolshoven, aber das tut wenig zur Sache – leichtheraus und mit einem nur halb ironischen Tonfall fragte, wie man es machen müsse, damit ein Kind ›so‹ herauskomme, und mit ›so‹ meinte sie: so wie ich, die ich damals ihre Studentin oder vielleicht gerade ehemalige Studentin war. Die Frage war natürlich völlig rhetorisch, und ich erkannte das freundliche Kompliment in ihr. Dennoch liess sie mich ziemlich perplex zurück, und ich wehrte ungelenk die damit implizierte Vorstellung ab, dass das, was ich bin, irgendetwas mit der Erziehung durch meine Eltern zu tun haben könnte, mit dem Milieu, in dem ich gross geworden bin und von dem ich mich so sehr entfernt habe, dass die Distanz oft nur noch als Unverständnis erfahrbar ist.
Ich bin zusammen mit fünf jüngeren Geschwistern in einem bildungsfernen evangelikalen Haushalt aufgewachsen, der sich durch wohldosierte Elternliebe in einem tendenziell lustfeindlichen und dogmatischen Umfeld auszeichnete. Ein Milieu, das die Geschichte, und insbesondere die persönliche Geschichte, dieses spektakuläre Ereignis Biografie, durch einen Fatalismus negierte, der alles, was wir hienieden sind und werden, in ein umfassendes Erlösungsgeschehen einband: Der Weltengang als linearer Pfad von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht, und der eigene Lebenslauf als ein Vollstreckungsbeispiel Seines Willens.
Aus Gründen, die weder einer Logik gehorchen noch eine innere Kohärenz aufweisen, kann ich heute sagen: Ich habe eine Reise gemacht, die damals nicht vorgesehen war. Der Begriff, den unsere Gesellschaft für diese Reise bereithält, scheint mir so banal wie unzutreffend, er lautet: Bildungsaufsteigerin. Es haftet ihm der negative Beigeschmack des Emporkömmlings an, und er suggeriert, man habe von Anfang an gewusst, wo unten und wo oben ist und sei zielstrebig auf die Leiter gestiegen.
Hält man sich auf seiner Reise aber in einer Gegend auf, in der schon der Besuch einer weiterführenden Schule ein Ereignis ist, eine Gegend, in der weit und breit keine Universität zu sehen ist und auch niemand wüsste, was man da, zum Beispiel mit einem Geschichtsstudium, anfangen und werden könnte, wird das Aufsteigertum als Metapher obsolet. Ich bin umgestiegen, nicht aufgestiegen. Auf jeden Fall nicht willentlich und schon gar nicht zielstrebig, im Gegenteil: Ich habe das Aufsteigen immer zu vermeiden versucht. Ich sah eitel auf die Gebildeten herab wie ein Matrose auf einen Steuerbeamten. Erstaunlich ist nicht mein Werdegang an sich, sondern dass es immer wieder einen Anschlusszug gab – eine neue Idee, eine Chance, eine Begegnung, eine Liebe, einen Job, mit dem ich mir das Leben finanzieren konnte.
Bin ich ein Klassenflüchtling? Tatsächlich kommt der Begriff der Flucht dem Geschehen schon näher, aber auch er scheint mir ein Zuviel an gerichtetem Willen auszudrücken. Und kaum jemand flieht vor einer Klasse. Man flieht vor einer Situation, vor einem Gefühl, vor einer inneren Enge, man flieht vor dem Bild, das man von der eigenen Zukunft hatte. Aber was bedeutet es schon, wenn man intuitiv weiss, dass man weg muss, ohne dass man eine Vorstellung hätte vom Wohin? Und weiss man es wirklich, dass man weg muss? Die Flucht, die Abgrenzung, die heroische Geste einer elementaren Verweigerung, sie geschehen eher aus einer bereits privilegierten Position heraus und erklären noch nicht eine Reise, die in erster Linie aus Suchbewegungen und Anpassungsleistungen besteht. Aus einer schwebenden Aufmerksamkeit, die das eigene Denken und Fühlen immer wieder mit den Umweltbedingungen abgleicht und offen ist für den Moment glücklicher Fügung, der einem eine neue Zukunftsoption an den Horizont projiziert.
»Ich war ziemlich beschäftigt, aber ich wusste nicht, was ich langfristig tun sollte«, schrieb der Philosoph Paul Feyerabend in seiner Autobiografie. »Ich spürte, dass ich mit meinem Leben irgendetwas ändern musste, aber ich wusste nicht, was.« Er war eben von London nach Wien zurückgekehrt, er erhielt eine Chance als Sänger, aber daraus wurde nichts. Schliesslich empfahl ihm jemand, sich auf eine Stelle zu bewerben, und Anfang 1955 wurde er zu einem Vorstellungsgespräch nach Bristol eingeladen. »Damit begann das, was als meine akademische Karriere bekannt ist.«
Es gibt für eine biografische Reise über Grenzen hinweg immer nur hinreichende, keine notwendigen Bedingungen. Lehrpersonen, Förderer, Freunde, Menschen, die einem ungeahnte Möglichkeiten des Daseins vorleben, auch staatliche Unterstützungsleistungen und Bildungsmöglichkeiten – das alles ist wichtig, aber es erklärt nie, weshalb jemand den Konformismus aufgibt, der uns mit der ganzen Macht sozialer Prägung in eine Richtung dirigiert. Weshalb man sich wie ein Hasardeur auf Unbekanntes einlässt, statt sich durch Selbstzensur (»das ist für andere, das ist nichts für mich«) von Vornherein zu disqualifizieren, wie es die Norm will.
Autosoziobiografische Berichte wie Annie Ernaux’ Die Jahre lassen das schlechte Gewissen erahnen, das mit dem Leben zwischen den Klassen, zwischen den Milieus, zwischen den verschiedenen Regionen der eigenen Reise einhergeht. Weitgereiste kommen selten an, wer die Macht des Sozialen nicht reproduziert, bleibt immer im Dazwischen. Man sucht nach Anerkennung, im Wissen, nie ganz dazuzugehören, man sehnt sich nach einer Heimat, aber kann sich nicht integrieren. Oder wie die Philosophin Chantal Jaquet schreibt: »Der Klassenübergänger verkörpert also die unmögliche Figur des rebellischen Konformisten.«
Im besten Fall tendiert man als rebellischer Konformist nicht zur Überanpassung, sondern macht aus seiner Not eine Tugend: Man kultiviert das ewige Anfängertum. Man misstraut den Eiferern und den Wissenden, dem Jargon der Insider und dem Sendungsbewusstsein der buchstabentreuen Weltverbesserer. Man bleibt ein Dilettant, ein »Freibeuter des Denkens«, wie der Feuilletonist Roman Bucheli kürzlich schrieb, ein »agents provocateur der selbstgefälligen Betriebsamkeit«. Der Spezialist mag sich der Vollkommenheit nähern, er verliert dabei aber die Fähigkeit der allgemeinen Übersicht – das zumindest behauptete der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt. Wer sich nicht dem Risiko aussetze, ein Dilettant zu sein, werde unvermeidlich ein »Ignorant und unter Umständen ein ganz roher Geselle«.
Bleibt die Frage, wie bewusst man den skeptischen Dilettantismus als Lebensform wählt. Ist es das Individuum, das ein System ablehnt? Oder ist es das System, das ein Individuum ablehnt? Gehen wir hinaus – oder werden wir abgestossen? Ich vermute, dass es weniger ein Nicht-wollen als ein Nicht-können ist, das uns dazu bringt, auf unbekannte Wege abzuzweigen. Ich passte nicht in das Milieu, in das ich zufällig hineingeboren wurde, ich konnte mich ihm nicht anpassen, und ich kann sagen, ich habe es redlich versucht. Dass ich mit der im Grunde unumgänglichen Nicht-Reproduktion des sozialen Gefüges, aus dem ich komme, zur ›Aufsteigerin‹ wurde, war in keiner Weise absehbar. Das persönliche Scheitern wäre genauso möglich gewesen, ja es wäre aus Sicht meines Herkunftsmilieus die logische Konsequenz gewesen.
Sicherheit gibt es also nicht. Glücklich, wer sich auf seiner Reise in ein
Setting hineinbewegt, in dem man sich selbst nicht mehr als Fremdkörper wahrnimmt. Dieser Zustand ist mein Begriff von Identität. So unwahrscheinlich mir meine eigene Biografie erscheint, so unvorstellbar ist es, ein anderes Leben gelebt zu haben und zu leben als gerade dieses eine.
Literatur
Pierre Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1 (Hamburg: VSA, 1992).
Roman Bucheli, ‘Ich bekenne, ich bin ein Dilettant’, Neue Zürcher Zeitung, 6.5. 2019, S. 31.
Jacob Burckhardt, Aesthetik der bildenden Kunst / Über das Studium der Geschichte. Kritische Gesamtausgabe (JBW), Bd. 10 (München: C.H. Beck, 2000).
Annie Ernaux, Les années (Paris: Gallimard, 1995); Die Jahre (Berlin: Suhrkamp, 2008).
Paul Feyerabend, Zeitverschwendung (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995); Killing Time. The Autobiography of Paul Feyerabend (University of Chicago Press, 1995).
Chantal Jaquet, Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht (Göttingen: Konstanz University Press, 2018); Les Transclasses ou la Non-Reproduction (Paris: PUF, 2014).
Xavier de Maistre, Voyage autour de ma chambre (Turin: s.n., 1794).