Jenny Illing und Ingo Schneider
Die großartigste Eigenschaft des Menschen ist die Kritik,
sie hat die meisten Glücksgüter geschaffen,
das Leben am besten verbessert.
Bertolt Brecht1
Begründung des Themas
Gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklungen haben in den letzten Jahren verstärkt die Frage nach den Aufgaben der Empirischen Kulturwissenschaft2, nach deren Positionierung und ihrem Selbstverständnis aufkommen lassen. Die Tagung des Österreichischen Fachverbands für Volkskunde 2017 in Graz, »Dimensionen des Politischen«3, war nicht zuletzt eine Reaktion auf diese Diskussionen, auch die sich in gewisser Weise daran anschließende Innsbrucker Tagung zur Themenpolitik4. Es geht hier um zentrale Fragen des Fachverständnisses: Welchen Aufgaben wollen und müssen wir uns als Alltags- und Erfahrungswissenschaft im 21. Jahrhundert stellen und – das macht die Sache noch interessanter — welches Verständnis von Wissenschaft ist damit verbunden? Wie sehen wir unsere Verantwortung als Wissenschafter_innen gegenüber der Gesellschaft? Welche gesellschaftliche Relevanz5 messen wir unseren Forschungen bei? Wie sehen wir das Verhältnis von Theorie und Praxis, aber ebenso von Autonomie der Wissenschaften und Praxisorientierung? Wie steht es um die Frage der Nützlichkeit?
Damit ist ein weites Feld von grundlegenden Fragen zur Gegenwart und Zukunft unserer Disziplin eröffnet, zu dem wir im Folgenden einen kleinen Vorschlag unterbreiten wollen. Wie es sich für einen Festschriftbeitrag ziemt, greifen wir dabei einen Gedanken der zu Ehrenden auf. Johanna hat immer wieder einmal die Formulierung kritische Kulturwissenschaft verwendet, eine Formulierung, die bei manchen Kolleg_innen eine reflexhafte Reaktion auslöst, nach dem Motto: was wäre denn Wissenschaft, wenn nicht kritisch. Und in der Tat: Die Philosophie, aber auch Wissenschaft insgesamt bestanden von Anfang und bis heute ganz wesentlich aus Kritik. Ähnliches gilt auch für den Begriff Analyse. Auch hier könnte man sagen: eine unkritische Analyse ist keine. Wir sind dennoch davon überzeugt, dass eine Formulierung wie die oben genannte, aber auch noch allgemeiner gefasst »kritische Wissenschaft«, mehr als eine rhetorische Figur ist – so der gängige Vorwurf. Wir meinen auch, dass der Verweis auf Kant, Hegel, Marx und die Kritische Theorie zu kurz greift. Wir denken, dass es sich lohnt, einen genaueren Blick auf die Geschichte des Begriffs Kritik zu werfen6, um damit den im Titel dieses Beitrags genannten Vorschlag zur Positionierung unseres Fachs, Empirische Kulturwissenschaft als kritische Gesellschaftsanalyse7 argumentativ zu unterfüttern. Wir sind davon überzeugt, dass es gerade unserem Fach gut ansteht, den kritischen Aspekt von Wissenschaft zu fördern, zu fordern und immer wieder einzulösen, hatte sich die alte Volkskunde doch nicht nur lange jeglicher Kritik an bestehenden (Unrechts)verhältnissen enthalten, sondern sich vielmehr als eine bewahrende, affirmative, nicht auf Veränderung sinnende Disziplin verstanden. Wir meinen auch, dass wir das Potential des Kritisierens nicht anderen Disziplinen überlassen sollten.8
Kritik und Krise
Die Geschichte des Wortes (im Sinne des Bedeutenden) und des Begriffs (im Sinne des Bedeuteten) Kritik und seiner wechselnden Bedeutungszuschreibungen und Verwendungsweisen ist lang. Sie oszilliert zwischen einem alltagssprachlichem und einem wissenschaftlichen Gebrauch. In den Wissenschaften ist sie über weite Strecken Philosophiegeschichte. Für unser Anliegen muss eine ausführliche Würdigung dieser Geschichte nicht erfolgen, so erhellend sie für die/den Nichtphilosophen/in auch sein mag. Uns genügt es, das Augenmerk auf Phasen bzw. Aspekte der Bedeutungs- und Gebrauchsgeschichte zu lenken, die für die Frage nach dem Potential der Kritik für die Empirische Kulturwissenschaft aufschlussreich sein könnten.
Im umgangssprachlichen Sinn wurde von alters her viel kritisiert; überall dort, wo Menschen unzufrieden waren und – daran hat sich bis heute nicht geändert — sich erlauben konnten, ihre Unzufriedenheit zu äußern. Diese subjektive Form des Kritisierens ist zu unterscheiden von jeder wissenschaftlichen Kritik, deren Gegenstand von allgemeinem Interesse sein muss. »Aus Bezweiflung, Beschwerde, Vorwurf, Anklage, Schelte usw., überhaupt Dagegensein, wird Kritik zur theoretischen oder philosophischen Praxis, wenn sie vom negativen Modus in den des Herausfindenwollens wechselt, sich zur Erforschung des jeweiligen Feldes, auf dem Irrtümer, Täuschungen oder Konflikte zum Problem werden, fortbildet, sich dabei methodisch selbst reflektiert und praktische Relevanz für Leben und Zusammenleben der Gesellschaftsmitglieder gewinnt.«9 Eine so verstandene Kritik bewegte sich von Anfang an und immer wieder auf den Feldern der Religionskritik, Sozialkritik und Ideologiekritik.
Ein Blick auf die Etymologie zeigt, dass das Wort Kritik auf denselben Wortstamm wie Krise zurückgeht: κρίνω, κρίνειν (kríno, krínein, scheiden, trennen, unterscheiden, auswählen), daraus κριτικός (kritikos) und κρίσις (krísis). Das Ausgangswort stand zunächst in medizinischem Gebrauch und bezeichnete die kritische Phase, also den Wendepunkt einer Krankheit. Entgegen der heutigen, grundsätzlich ergebnisoffenen Bedeutung eines kritischen Krankheitszustandes bezeichnet »Krise in der hippokratischen Medizin ein positives Anzeichen für eine baldige Genesung«10. Etwas frei interpretiert könnte man also sagen, Krise wie Kritik tragen im Wortstamm den Keim zur Verbesserung der Verhältnisse in sich.
Kritik in der Antike
Dass philosophische Kritik bereits in ihren Anfängen in die Praxis zielte und für den Kritisierenden gefährlich sein konnte, zeigt das Beispiel von Sokrates, der bekanntlich wegen Asebie — also Religionskritik — zu Tode verurteilt wurde. Auf ihn baut dessen Schüler Platon auf, der in seinem Dialog Politikos nun erstmals das Wort Kritik einführt. Kritische Erkenntnis meint dort Entscheidungs- oder Urteilsfähigkeit von einem, der wie ein Zuschauer auf die Dinge blickt. Kρίναι (krínai) »heißt einen entscheidenden Unterschied machen und in diesem Sinn ein Urteil fällen.«11 In Platons Dialog Sophistes erfahren wir, wie der philosophische Gebrauch des κρίναι dem umgangssprachlichen entnommen wird. Immer geht es dabei um Auslese und Aussortieren, um »unterscheidendes Beurteilen und praktisches Scheiden (…) des Schlechteren vom Besseren«12, beständig der Praxis des Sokratischen Dialogs folgend in Form eines dialogisch-dialektischen Verfahrens. Während sich diese Bedeutung von »Kritik als reflexiv beurteilende Haltung«13 bei Aristoteles fortsetzt, sehen wir in der hellenistischen Zeit eine Einengung auf den Bereich literarischer Erzeugnisse, worauf der ja bis heute bestehende Beruf des Philologen bzw. des Kritikers zurückgeht. Allerdings — und darin liegt ein entscheidender Unterschied — stand der hellenistische Begriff noch insofern in einem wissenschaftlichen Kontext, als er möglichst frei von subjektiver Bewertung sein sollte. Die Aufgabe des Kritikers bestand darin, die richtige von falschen Textfassungen zu unterscheiden. Die heutige sehr subjektive Version der Literaturkritik hat dagegen mit wissenschaftlicher Textkritik nichts gemein.
Zwischen Theorie und Praxis – Streiflichter auf den neuzeitlichen Kritikbegriff
In Humanismus und Renaissance wird die antike wissenschaftliche Tradition der Kritik von verschiedenen Denkern wiederaufgenommen und weiterentwickelt.14 Genannt sei hier lediglich Francis Bacon: Zum einen weil er – anders als die Philologen, die die Welt aus alten Texten ableiten wollten – die Erfahrung zum Prinzip der Wissenschaft erklärte; zum anderen weil er eine Vorform der Ideologiekritik entwickelte, eine Kritik an den Idola der Erkenntnis, und weil er die Philosophie, man kann aber wohl mit Recht auch sagen, die Wissenschaften insgesamt, in den Dienst des materiellen Wohls der Menschen stellte. In der Vorrede seines Novum Organum richtet er eine »allgemeine Mahnung an alle […]. Sie mögen sich überlegen, was wirklich das Ziel der Erkenntnis ist, und dass sie dieses nicht aus Freude an der Spekulation noch aus Wetteifer, noch zur Erlangung der Herrschaft über andere, noch wegen des Profits, des Ruhmes, der Macht (…) anstreben dürfen, sondern zum Wohle und Nutzen des Lebens.«15 Bacon steht somit am Beginn einer modernen Konzeption von (kritischer) Wissenschaft, die sich die Aufgabe stellt, den Menschen, also der Gesellschaft zu nützlich zu sein. Und diese Konzeption sollte sich im 18. Jahrhundert fortsetzen, von dem Immanuel Kant sagen wird: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss.«16
Der Kritikbegriff bei Kant nimmt im Laufe seines Werkes eine Entwicklung, die sich nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt. Seine drei großen Kritiken17 wirken zweifellos in unserem Denken über Kritik bis heute nach. Am nachhaltigsten trifft dies wohl auf seine Kritik der reinen Vernunft zu. Vernunft steht dort für die Möglichkeiten des reinen Denkens vor jeder Art von Erfahrung. Unter Kritik der reinen Vernunft versteht Kant »nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag«18. Insofern ist Kants Konzept der Kritik — und das ist das radikal neue daran — also selbstreflexiv auf die »Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt«19 gerichtet. Diese Bedingungen und somit die Grenzen der Erkenntnis gilt es, prinzipiell vor jedem Erkenntnisstreben auszuloten. Über sie, so meinen wir, kann sich auch heute kein/e Wissenschaftler_in hinwegsetzen. In der Entstehungsphase der Kritik der reinen Vernunft sieht Kant Kritik selbst nicht als Wissenschaft, sondern als ihre Propädeutik oder eine ihrer Methoden. Dieser Gedanke hat viel für sich. Kant rückt dennoch in der Folge von ihr ab und sieht Kritik nicht mehr als Verfahren, sondern vielmehr als System20, später doch auch als systematische Wissenschaft und als Theorie. Und obwohl Kant viel über Fragen der Praxis denkt und schreibt, bleibt Kritik für ihn ausschließlich als Theorie legitim und ist daher strikt von der Praxis getrennt. Nur in der Theorie könne sie kompromisslos radikal sein. »Gäbe es dagegen einen unmittelbaren Übergang von Kritik zu Praxis, müsste die Entfaltung der Theorie selbst die politischen Konsequenzen der Theorie mitbedenken; …«21, was sie in ihrer Radikalität einschränken würde. Kants radikaler Kritikbegriff bleibt also auf die Sphäre der Theorie beschränkt.
Anders dagegen der Kritikbegriff bei Hegel. Er entwickelt jenen theoretisch-methodischen Ansatz, der heute unter dem Namen der immanenten Kritik geläufig ist. Über ihn wird Adorno sagen, er würde den Kritisierten »mit seiner eigenen Kraft dorthin« treiben, »wohin er um keinen Preis möchte, und ihm mit dem Geständnis der eigenen Unwahrheit Wahrheit« abnötigen.22 Das Wesentliche bzw. das wesentlich Neue an diesem Verständnis von Kritik ist, dass es von innen heraus auf eine Veränderung des Kritisierten abzielt und die Kraft dazu aus den Prinzipien des Kritisierten selbst schöpft. Damit wird zugleich deutlich, dass es Hegel anders als Kant durchaus um die Praxis geht. Allerdings vermeidet Hegel – warum scheint nicht eindeutig geklärt zu sein – das Wort Kritik in seinen Hauptwerken weitgehend und verwendet stattdessen die drei Begriffe Widerspruch, Prüfung und Widerlegung. Das Prinzip der immanenten Kritik kommt am deutlichsten in der Widerlegung zum Ausdruck. Es steht in einem unübersehbaren Gegensatz zur radikalen Kritik Kants. Zwar stimmen radikale und immanente Kritik darin überein, dass der Kritiker nicht von eigenen, partikularen Voraussetzungen ausgehen dürfe. Während radikale Kritik mit derselben Vehemenz ein Ausgehen von den Voraussetzungen des Kritisierten ablehnt – wären diese akzeptabel, bedürften sie keiner Kritik, — setzt immanente Kritik genau bei diesen an. Sie geht von einer relativen Vernünftigkeit der Prinzipien bzw. Normen des Kritisierten aus, die freilich nicht zur Durchführung gelangte.23 Auch aus diesem Gedanken spricht bereits der Blick auf die Praxis. Dennoch steht außer Frage, dass immanente Kritik theoriegeleitet sein muss.
Das Ringen um eine Theorie immanenter Kritik führt von Hegel über die linkshegelianische Tradition und Feuerbach zu Marx, weiter zur Kritischen Theorie bis zu Rachel Jaeggi.24 Zumindest zwei übergreifende Gemeinsamkeiten eint, bei allen Unterschieden im Detail, diese Bemühungen: die Interdependenz von Theorie und Praxis inklusive der Kritik an beiden und der Anspruch auf Veränderung des Bestehenden aus sich selbst heraus. Beide Momente finden sich erstmals mit besonderer Deutlichkeit im Kritikverständnis von Marx wieder: »der Zusammenhang zwischen der Kritik der Zustände, des Bestehenden und der der Theorie«25 auf der einen Seite und der Anspruch, »dass wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen«26 auf der anderen. Man kann — Marx zufolge — die Verhältnisse nicht wirklich verbessern, wenn man versucht, diese allein zu ändern bzw. sie an die bestehende Theorie anzupassen. Man muss vielmehr zuerst die Theorie kritisieren und versuchen, diese weiterzuentwickeln. »Und das ganze sozialistische Prinzip ist wieder nur die eine Seite, welche die Realität des wahren Menschen betrifft. Wir haben uns ebenso wohl um die andere Seite zu kümmern, also Religion, Wissenschaft etc. zum Gegenstande unserer Kritik zu machen.«27 Die Kritik der Theorie darf aber nicht bei sich stehen bleiben. Sie muss vielmehr zur Formulierung von Aufgaben führen, »für deren Lösung es nur ein Mittel gibt: die Praxis.«28. Klarer kann man den notwendigen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis nicht ausdrücken. Marx löst die Trennung von Theorie und Praxis auf, da selbst reine Theorie als begreifende Kritik bereits Teil der Wirklichkeit ist und daher immer Handlungscharakter hat.29 »Kritik wäre so das Öffnen eines Horizonts für künftige Wirklichkeit.«30 Allerdings, und das führt zum Prinzip der Immanenz und damit zur gegensätzlichen Auffassung zur Transzendenz Kants, geht es nicht darum, der Welt neue Maßstäbe von außen, neue Dogmen, neue Ideale oder Glaubensinhalte einzupflanzen, sondern bereits unbewusst vorhandene ins Bewusstsein zu rücken. »Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von dem sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen.«31 Bei aller Wichtigkeit für seine Philosophie bleibt Kritik für Karl Marx stets Funktion und nicht Selbstzweck, stets Mittel zum Zweck. Ihr Ziel bleibt letztlich immer, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«32 Der Lauf der Geschichte und die gescheiterten Versuche der Realisierung der Marxschen Ideen haben gezeigt, wie utopisch dieses Ziel war und leider noch immer ist.33
Dennoch haben die Vertreter der Frankfurter Schule mit der Kritischen Theorie nach dem Scheitern bzw. dem Ausbleiben der proletarischen Revolution in den mitteleuropäischen Ländern eine Fortsetzung der Marxschen Kapitalismuskritik versucht. Wir wollen einen wenn auch verkürzten und fokussierten Blick auf diesen Versuch werfen und dabei drei zentrale und ineinander verwobene Aspekte hervorheben: den Anspruch auf Transformation der Gesellschaft, das Verständnis von Kritik als immanent und die Unhintergehbarkeit des Zusammenhangs von Theorie und Praxis.34 Als einzige Instanz gilt kritischem Denken das »Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts.«35 Kritische Theorie begnügt sich aber nicht mit dem Denken, sie versteht sich vielmehr als die »theoretische Seite der Anstrengung, das vorhandene Elend abzuschaffen.«36 Anders als traditionelle Theorie betrachtet kritische Theorie die gesellschaftlichen Verhältnisse, »die Genesis der bestimmten Sachverhalte als auch die praktische Verwendung der Begriffssysteme«37, nicht als äußerlich, als außerhalb der Theorie stehend, was auf eine Trennung von Theorie und Praxis hinauslaufen würde. Theorie ist ihr stattdessen immer mit dem gesellschaftlichen Leben verflochten. »In Wahrheit«, schreibt Horkheimer, »resultiert jedoch das Leben der Gesellschaft aus der Gesamtarbeit der verschiedenen Produktionszweige, und wenn die Arbeitsteilung unter der kapitalistischen Produktionsweise auch nur schlecht funktioniert, so sind ihre Zweige, auch die Wissenschaft, doch nicht als selbstständig und unabhängig anzusehen.«38 Und noch deutlicher: »In der Tat steckt in der gesellschaftlichen Praxis immer auch das vorhandene und angewandte Wissen; die wahrgenommene Tatsache ist daher schon vor ihrer bewussten, vom erkennenden Individuum vorgenommenen theoretischen Bearbeitung durch menschliche Vorstellungen und Begriffe mitbestimmt.«39
Man mag an der Umsetzbarkeit der Theoreme der kritischen Theorie für die Wissenschaft im 21. Jahrhundert Zweifel hegen, die oben angesprochene Verflochtenheit von Theorie und Praxis ist wohl schwer zu bestreiten und so aktuell wie eh und je. »Erkenntnis«, formuliert denn auch Hans-Ernst Schiller in diesem Sinn in einem Vortrag über Kritische Theorie, »ist ein gesellschaftlicher Vorgang, es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft … Und mit den Voraussetzungen sind eben nicht nur die wissenschaftlichen oder philosophischen Traditionen und Institutionen gemeint, sondern die Verhältnisse, in denen sich die Reproduktion der Gesellschaft vollzieht.«40 Aus dieser Einsicht leitet sich denn auch das oben genannte übergeordnete Streben der Kritischen Theorie nach »Transformation des gesellschaftlichen Ganzen«41 ab. Kritische Theorie zielt »nirgends bloß auf Vermehrung des Wissens als solchen ab, sondern auf die Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen«42, und damit letztlich »auf geschichtliche Veränderung, die Herstellung eines gerechten Zustands unter den Menschen.«43
Den Vertretern der Kritischen Theorie ging es — das sei hier noch einmal wiederholt, weil es für das Anliegen dieses Textes entscheidend ist — immer um den Menschen, das heißt um die Arbeit an der Verbesserung seiner Lebensverhältnisse und damit um Veränderung. »Die kritische Theorie der Gesellschaft« so Horkheimer im Nachtrag zu seinem Grundsatztext Traditionelle und kritische Theorie, »hat dagegen die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand. Die Verhältnisse der Wirklichkeit, von denen die Wissenschaft ausgeht, erscheinen ihr nicht als Gegebenheiten, die bloß festzustellen und nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit vorauszuberechnen wären. Was jeweils gegeben ist, hängt nicht allein von der Natur ab, sondern auch davon, was der Mensch über sie vermag.«44
Im Grunde genommen schließt Horkheimer hier direkt an die 11. These von Marx über Ludwig Feuerbach an: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern.« Und das tut in gewisser Weise auch Rahel Jaeggi, eine wichtige Stimme in der Nachfolge der Kritischen Theorie, die in ihrer 2009 vorgelegten Habilitationsschrift das obige Horkheimer-Zitat aufgreift und der Frage nachgeht, ob, beziehungsweise inwieweit sich Lebensformen kritisieren lassen. Die Frage mag, gerade wenn man an das zentrale Anliegen des Marxismus, aber auch der Kritischen Theorie der Befreiung des Menschen aus allen Formen der Unterdrückung denkt, verwundern. Setzt diese, so die Gegenfrage, nicht gerade die freie Wahl und damit Unkritisierbarkeit der Lebensform voraus? Setzt, wie dies John Rawls und Jürgen Habermas vorschlagen, die Diversität gegenwärtiger Gesellschaften nicht voraus, »sich der philosophischen Diskussion des ethischen Gehalts von Lebensformen zu enthalten«?45 Gerade nicht, meint Rahel Jaeggi. Würden wir uns der Kritik von Lebensformen enthalten, liefen wir Gefahr, diese in toto als gegeben und damit auch nicht veränderbar hinzunehmen. »Nicht trotz, sondern gerade angesichts der Situation moderner Gesellschaften, als der ›ungeheuren Macht, die alles an sich reißt‹ (Hegel) — lässt sich die Bewertung von Lebensformen nicht ins Reservat partikularer Vorlieben und unhintergehbarer Bindungen abdrängen«46, leben wir doch in einer Zeit, in der wir mehr als in der Vergangenheit mit anderen Lebensformen konfrontiert sind. Dies kann nicht nur zu Konflikten, sondern auch zu Krisen unseres Selbstverständnisses führen und muss die Infragestellung eigener eingelebter sozialer Praktiken — nichts Anderes sind Lebensformen für Rahel Jaeggi — zur Folge haben. Jaeggi verbindet in ihrem Ansatz die heutige Dimension des Kritikbegriffs mit der ursprünglichen der Krise und setzt »dort ein, wo es Probleme, Krisen und Konflikte gibt«47. Die daraus zu entwickelnde Kritik soll aber nicht »aus einer extern-autoritären Perspektive betrieben« werden. Vielmehr verfolgt Jaeggi das Ziel, »Lebensformen als historisch sich entwickelnde und mit normativem Anspruchsniveau versehene Lernprozesse« zu analysieren, die uns letztlich die »Schlüssel zu ihrer Beurteilung in die Hand« geben.48
Drei Aspekte der Habilitationsschrift von Rahel Jaeggi möchten wir hervorheben. Zum einen belegen ihre Überlegungen einmal mehr das Ineinandergreifen, wenn nicht Ineinanderfallen von Theorie und Praxis.
Zum zweiten muss Kritik letztlich — und das gilt wohl für Wissenschaft insgesamt — zu einer Beurteilung des Untersuchungsgegenstands führen und dies kann nicht ohne normative Ansprüche erfolgen. Wir müssen also auch in unserer Arbeit als empirische Kulturwissenschaftler_innen immer Position beziehen.
Und drittens sollen die dafür notwendigen Normen nicht von außen angelegt, sondern dem Konzept einer begreifenden Kritik gemäß in diesem Fall aus der historisch-kritischen Analyse der Lebensformen heraus entwickelt werden. Das ist mit der Formulierung »Schlüssel zu ihrer Beurteilung in die Hand« geben gemeint. Jaeggi steht damit in der Tradition der immanenten Kritik.
Jaeggis Ansatz einer Kritik von Lebensformen als »Zusammenhang von sozialen Praktiken«49 ist unserer Meinung nach für eine empirische Kulturwissenschaft von unmittelbarer Relevanz. Sie geht davon aus, dass Kritik nur sinnvoll ist, wo prinzipiell die Möglichkeit auf Beeinflussung, auf Veränderung besteht. Schlechtes Wetter an sich lässt sich so gesehen nicht kritisieren. Wenn man dieses allerdings im Kontext der Klimakatastrophe sieht, sieht es schon anders aus. Man muss hier deren Ursachen kritisieren. Deshalb gilt:
»Fasst man ›Kritik‹ als einen auf Gründen beruhenden Anstoß zur Transformation eines (sozialen) Gebildes auf, als einen Prozess, im dem die Kritikwürdigkeit des entsprechenden Sachverhalts oder Verhältnisses erkannt, aufgezeigt und eine Veränderung hin zum Besseren angestrebt wird, so qualifiziert sich nur eine bestimmte Art von Gebilden als möglicher Gegenstand der Kritik. Das liegt daran, dass Kritik einen Adressaten, die wenigsten prinzipielle Möglichkeit ihrer Umsetzung und einen Maßstab braucht.«50
Lebensformen etwa sind gestaltet und daher gestaltbar; sie lassen sich folglich kritisieren.51 Jaeggi folgt hier dem Prinzip der immanenten Kritik, die »ihren Gegenstand anhand von Maßstäben, die in diesem selbst schon enthalten sind«52 kritisieren. Sie geht zusätzlich davon aus, dass es für eine Kritik außerhalb des Kritisierten gar keine sinnvolle Position geben kann. Immanente Kritik setzt deshalb bei einem »Verständnis« an, »wie Normen in sozialen Praktiken wirksam sind.«53 Sie richtet ihren Blick auf die Vollzugsbedingungen von Normen in sozialen Praktiken und arbeitet in Richtung einer Transformation des Bestehenden auf Basis der immanenten Probleme und Widersprüche in einer bestimmten sozialen Konstellation.54
Immanente Kritik muß darüber hinaus immer theoriegeleitet sein. Jaeggi nennt dafür vier entscheidende Momente, die auch für eine Kulturwissenschaft als kritische Gesellschaftsanalyse Geltung beanspruchen können. Immanente Kritik ist zuallererst »objektive Kritik … insofern sie sich von der Sache her nahelegt und nicht bloß von der subjektiven kritischen Intention des Kritikers ausgeht.«55 Objektiv meint hier im ursprünglichen Sinn sachlich und unvoreingenommen: als in den Objekten, man kann aber auch sagen, in den Verhältnissen liegend. Objektive Kritik bezieht sich folglich auf die in den Objekten liegenden »Spannungsverhältnisse, Krisenmomente oder Defizite«.56 Damit gerät das antike Nahverhältnis von Kritik und Krise in den Blick. »Es ist die Existenz von wirklichkeits-immanenten Konflikten und Widersprüchen und damit der Zusammenhang von Krise und Kritik, den eine solche Form von Kritik ins Bewusstsein rückt.«57 Das Besondere an immanenter Kritik besteht nun darin, dass sie an der Bewältigung der Krise arbeitet, indem sie die in einer sozialen Formation liegenden Defizite, Probleme, Konflikte oder Widersprüche zu verstehen versucht, also keine externen Normen oder Maßstäbe auf sie anwendet. Als zweites Moment nennt Jaeggi den engen Zusammenhang von Analyse und Kritik, insofern als eine so verstandene Kritik immer die in den Verhältnissen liegenden Probleme theoretisch zu analysieren und aufzudecken sucht. Immanente Kritik ist drittens nicht in erster Linie destruktiv. Sie versteht sich vielmehr als »Motor und oder Katalysator eines Entwicklungsprozesses« und nimmt »die zu überwindende Position im Hegelschen Sinne ›in sich auf‹.«58, damit schließlich »das Neue als Transformation des Alten« entstehen könne.59 Das vierte Moment immanenter Kritik liegt – daran anschließend – in ihrem dynamischen Charakter. Ihr Maßstab entsteht und transformiert sich im Vollzug und rechtfertigt sich auch in diesem.60
Empirische Kulturwissenschaft als kritische Gesellschaftsanalyse
Mit Blick auf die Fachgeschichte haben wir eingangs gesagt, dass es gerade unserer Disziplin gut anstehen würde, den kritischen Aspekt von Wissenschaft immer wieder einzulösen, dass wir aber auch ganz grundsätzlich das Potential des Kritisierens nicht anderen Disziplinen überlassen sollten. Was können wir — das ist die abschließende Frage — aus dem in diesem Text unternommenen Streifzug durch die Geschichte des Kritikkonzepts für das Selbstverständnis unseres Fachs im Sinne einer empirischen Kulturwissenschaft als kritischer Gesellschaftsanalyse mitnehmen?
Zunächst einmal meinen wir, dass wir einiges über den Zusammenhang von Wissenschaft und Gesellschaft beziehungsweise die Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft lernen können. Hilfreich dafür sind vor allem all jene Überlegungen, die um den unvermeidbaren Zusammenhang von Theorie und Praxis kreisen. Explizit formuliert wird dieser Zusammenhang seit Hegel bis zur Kritischen Theorie und darüber hinaus immer wieder. Erinnert sei lediglich an die Formulierung Horkheimers, dass Theorie immer »in den Lebensprozess der Gesellschaft« verflochten sei.61 Eine Konzeption von Wissenschaft als Erkenntnis um der Erkenntnis willen erscheint unter dieser Prämisse nicht tragfähig. Vielmehr ist Erkenntnis, wir erinnern an Hans-Ernst Schiller, »ein gesellschaftlicher Vorgang, es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft«62.
Akzeptieren wir diese Einsichten, stellt sich die Frage nach der Verantwortung bzw. Relevanz der Wissenschaften im Allgemeinen quasi von selbst. Wissenschaft hat dem Gemeinwohl zu dienen, und das kann sie, wenn man das Ineinandergreifen, die Interdependenz von Theorie und Praxis akzeptiert. Jens Wietschorke hat jüngst unter Berufung auf den Wissenschaftsforscher David Kaldewey in diese Richtung argumentiert: Das Spannungsverhältnis von Autonomie und Praxisorientierung, Anwendbarkeit und Nützlichkeit begleite die Wissenschaften von Anfang an. Kaldewey nennt dies die »doppelte Konstitution von Wissenschaft«63. Wissenschaft konstituiert sich »auf der einen Seite durch ihren Eigenwert, ihre Funktion der Erkenntnisproduktion, ihre Autonomie, auf der anderen Seite durch ihren gesellschaftlichen Erfolg, ihre Leistungen für die Umwelt, ihre heteronome Struktur und ihre Verflechtungen mit dem Feld der Macht.«64 Erkenntnis und Anwendungsorientierung, – und man könnte an dieser Stelle auch Theorie und Praxis sagen – ergänzt Wietschorke, seien dialektisch aufeinander bezogen. Die Unterscheidung zwischen Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung, wie sie für die Naturwissenschaften zurecht getroffen werde, falle für die Sozial- und Geisteswissenschaften weg, da »Gegenstand und Anwendungsbereich in eins« fallen.65
Für die soziale Verantwortung der Wissenschaften bzw. Wissenschaftler_innen haben unterschiedliche Denkerinnen und Denker immer wieder argumentiert. So sprach sich etwa der ehemalige deutsche Bundeskanzler und langjährige Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit Helmut Schmidt 2010 in einer Rede über die Rolle der Wissenschaften im 21. Jahrhundert klar gegen eine »Forschung um ihrer selbst willen« und für ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft aus:
»Es mag ja sein, dass ein Wissenschaftler jemand ist, dessen Einsichten größer sind als seine Wirkungsmöglichkeiten. […] Gleichwohl können Wissenschaftler nicht beanspruchen, unbehelligt von den Weltproblemen, unbehelligt vom ökonomischen und politischen Geschehen, unbehelligt von den Zwängen, denen ansonsten die Gesellschaft unterworfen ist, ein glückliches Eremitendasein zu führen. Denn auch als hochspezialisierte Forscher bleiben sie ein Zoon politicon. Und deshalb ist Wissenschaft heute nicht nur, wie Carl Friedrich von Weizsäcker gesagt hat, ›sozial organisierte Erkenntnissuche‹ — sondern Wissenschaft ist zugleich eine der sozialen Verantwortung verpflichtete Erkenntnissuche!«66
Wenn wir unsere Verantwortung als Wissenschaftler_innen ernst nehmen, bedeutet das — auch das nehmen wir aus der Beschäftigung mit dem Kritikbegriff mit — dass wir Gesellschaft als gestaltet und gestaltbar ansehen, dass wir uns nicht mit den Gegebenheiten abfinden und diese lediglich analysieren, sondern an einer Verbesserung der Verhältnisse zu arbeiten bereit ein müssen. Erinnert sei hier an den Ansatz von Rahel Jaeggi, die mit ihrem Konzept von Kritik an die ursprüngliche Bedeutung der Krise anschließt. Für Jaeggi, das wurde bereits gesagt, setzt die Kritik der Lebensformen dort ein, »wo es Probleme, Krisen und Konflikte gibt.«67 Ein solcher Ansatz scheint uns gerade für unsere Disziplin angebracht und wurde ja mehrfach umgesetzt; das belegen eine Reihe von Arbeiten der letzten Jahre.68 Das bedeutet, dass wir – auch das lehrt uns die Beschäftigung mit dem Kritikkonzept – wo immer wir es für notwendig halten, Anspruch auf Transformation der Gesellschaft erheben. »Die Angepassten«, so Wolfgang Fritz Haug, »lieben diese Kritik nicht.«69 Und Haug untermauert seine Aussage mit einem Adorno-Zitat: »Denn Kritik nimmt den Menschen ihren kargen geistigen Besitz, den Schleier, den sie selber als wohltätig empfinden.«70 Beiden Aussagen ist zuzustimmen, auch wenn sie zurückhaltend, um nicht zu sagen, untertreibend formuliert sind. Denn man muss ja doch sehen, dass die Angepassten, die Besitzenden und Herrschenden sich nicht immer mit dem bloßen Missfallen begnügen. Aus der Perspektive der Mächtigen und Herrschenden bedeutet Kritik immer eine Gefahr für den Fortbestand ihrer Macht. Umgedreht ist das Geschäft des Kritisierens für den kritischen Intellektuellen per se gefährlich. Und diese Gefahren stehen nicht nur in einer langen Tradition, beginnend beim traurigen Schicksal von Sokrates. Sie sind heute so groß wie eh und je. Man denke etwa an den Umgang mit kritischen Geistern, Journalist_innen, Menschenrechtsaktivist_innen oder Systemkritiker_innen in totalitären Staaten wie Russland, Saudiarabien oder der Türkei, an die Ermordung von Anna Politkowskaja oder Jamal Khashoggi und die Inhaftierung von Deniz Yücel und anderer Journalisten oder Aktivist_innen. Aber auch die Reaktionen von rechten Politiker_innen auf die Aktivitäten der Fridays for Future-Bewegung stehen durchaus in dieser Traditionslinie.
Nun wollen wir dieses Risiko natürlich nicht auf die Arbeit von kritischen Wissenschaftler_innen, auf empirische Kulturwissenschaftler_innen, die sich einer kritischen Gesellschaftsanalyse verpflichtet fühlen, übertragen. Betreiben wir das Geschäft des Kritisierens, verlangt dies vergleichsweise wenig Mut. Es bedeutet aber – und das ist uns wichtig zu betonen –, dass wir in unserer Arbeit nicht objektiv bleiben können, sondern immer wieder Position beziehen müssen. Kritik ist, das sagt auch Rahel Jaeggi, immer parteiisch. Gerade die Geistes- beziehungsweise Kulturwissenschaften, argumentiert Jens Wietschorke überzeugend zur Frage des Position-beziehen-Müssens, arbeiten entscheidend über die Kontextualisierung ihrer Phänomene. Diese »sagen uns nicht von sich aus, was ihre Kontexte sind, sondern die Kontexte werden im wissenschaftlichen Zugriff konstruiert.«71 Und in dieser Herstellung des Kontexts beziehen wir als Forscher_innen unweigerlich Position. »Wir haben es eben nicht mit kühl abzuarbeitenden Daten zu tun, sondern die kulturwissenschaftliche Arbeit ist eine deutende und verstehende, eine reflexive und die Forscher_innen involvierende, eine idiografische und keine nomothetische Arbeit, sie ist auch eine Arbeit an und mit gesellschaftlichen Debatten, zu denen man schon Position bezieht, wenn man sie nur zitiert — oder wenn man sich überhaupt nur für ein Thema in ihrem Umkreis entscheidet.« Wir offerieren, so Jens Wietschorke weiter, nicht nur immer Interpretationen, sondern genau betrachtet – mit Blick auf die Sinnzuschreibungen in der sozialen Welt – »Interpretationen von Interpretationen.«72 An der Idee der Werturteilsfreiheit kann man so gesehen kaum festhalten.
Gerade deshalb, dies führt zu einem letzten Punkt, den wir aus der Beschäftigung mit dem Kritikkonzept mitnehmen, gerade deshalb kommt es entscheidend darauf an, wie wir in unserer Arbeit Kritik üben. Kritik muss, damit schließen wir an die erste Erkenntnis dieses Schlusskapitels an, immer theoriegeleitet sein. Sie muss aber auch stets versuchen, immanent vorzugehen. Was dies bedeutet, haben wir weiter oben insbesondere anhand von Jaeggis Kritikkonzept ausgeführt.
Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Unsere Erkenntnisobjekte dürfen wir nicht mit von außen angelegten Maßstäben kritisieren; diese müssen vielmehr im Sinne einer begreifenden Kritik aus der historisch-kritischen Analyse selbst entwickelt werden. Das ist ein hoher und schwer immer einzulösender Anspruch. Erheben muss man ihn aber allemal. Dass unsere Arbeit als empirische Kulturwissenschafter_innen einfach wäre, hat ja auch niemand behauptet.73
Endnoten
1. Berthold Brecht, ‘Über die Theatralik des Faschismus’, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22.1: Schriften 2 (Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag und Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993), S.569.
2. Wir haben uns entschieden, nur diese Bezeichnung für unser Vielnamenfach zu verwenden. Das erscheint uns nicht nur sinnvoll, sondern spart auch Platz.
3. Johanna Rolshoven und Ingo Schneider (Hg.), Dimensionen des Politischen. Ansprüche und Herausforderungen der Empirischen Kulturwissenschaft (Berlin: Neofelis, 2018).
4. Timo Heimerdinger und Marion Näser-Lather (Hg.), Wie kann man nur dazu forschen? Themenpolitik in der Europäischen Ethnologie. Buchreihe der österreichischen Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 29 (Wien: Selbstverlag des Vereins für Volkskunde, 2019).
5. Jens Wietschorke hat dazu einen lesenswerten Beitrag geleistet. Jens Wietschorke: ‘Does that Matter? Überlegungen zur Relevanzfrage in der kulturwissenschaftlichen Forschung’, In Heimerdinger und Näser-Lather 2019, wie Anm. 4, S. 77-94.
6. Es gibt wohl wenige Begriffe in den Geistes- und Sozialwissenschaften, über die so viel nachgedacht und geschrieben wurde wie über jenen der Kritik. Jeder Versuch, im Rahmen eines Aufsatzes darüber der Komplexität der Thematik erschöpfend Auskunft zu geben, ist daher zum Scheitern verurteilt. Wenn wir in diesem Text dennoch für unseren Zusammenhang zentrale Überlegungen vorzustellen versuchen, dann geschieht dies mit Blick auf das Verhältnis von Theorie und Praxis einerseits und den Ansatz einer immanenten begreifenden Kritik andererseits.
7. Klaus Schönberger hat in seiner Klagenfurter Antrittsvorlesung im Grunde in diese Richtung argumentiert, wenn er von Kulturanalyse als Gesellschaftsanalyse spricht. Wir stimmen mit ihm überein: Unser Fach zielt letztlich immer auf Gesellschaft. Kultur ist uns nicht Endzweck, sondern Analysetool. — Klaus Schönberger, ‘Kultur als Untersuchungsgegenstand und als heuristische Kategorie der Gesellschaftsanalyse. Prolegomena zu einer Kulturanalyse der Alpen-Adria-Region’, Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 121 (2018), S. 1-37.
8. Dieser Beitrag versucht, das Potential der Kritik für die Empirische Kulturwissenschaft vorwiegend auf der theoretischen Ebene auszuleuchten. Uns ist selbstverständlich bewusst, dass gerade das Konzept einer begreifenden, immanenten Kritik, wie es hier vorgestellt wird, die Verbindung von Theorie und Praxis impliziert und Beispiele aus der Praxis verlangt. Solche mussten aber aus Platzgründen unterbleiben. Wir denken daran, solche an anderer Stelle auszuführen.
9. Wolfgang Fritz Haug, ‘Kritik’, in Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd. 8/I (Hamburg: Argument-Verlag, 2012), Sp. 39.
10. Dirk Stederoth, ‘Kritik’, in Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe Bd. 2 (Freiburg, München: Alber, 2011), Sp.1347.
11. Haug 2012, wie Anm. 9, Sp. 43.
13. Stederoth 2011, wie Anm. 10, Sp. 1348.
14. Zu nennen sind hier eine ganze Reihe von Gelehrten, u.a. René Descartes, Baruch de Spinoza, Giambattista Vico, Petrus Ramus, David Hume, aber auch Pierre Bayle, der den philologischen Kritik-Begriff des Humanismus auf die Tradierung historischen Wissens übertrug und damit dem allgemein wissenschaftlichen Kritik-Begriff den Weg bahnte. Siehe dazu Haug 2012, wie Anm. 9, Sp. 55.
15. Francis Bacon/Franciscy de Verulamio Instauratio magna Novum organum (London: Bill & Norton, 1620).
16. Immanuel Kant, Critik der reinen Vernunft, Kants Werke, Akademie-Textausgabe Bd. 3 (Riga: Hartknoch, 21787), S. 9, Fußnote.
17. Immanuel Kant, Critik der reinen Vernunft, Erstausgabe (Riga: Harknoch, 1781); ders.: Critik der practischen Vernunft, Erstausgabe (Riga: Hartknoch, 1788); ders., Critik der Urteilskraft, Erstausgabe (Berlin, Libau: Lagarde und Friederich, 1790).
19. Stederoth 2011, wie Anm. 10, Sp. 1349.
20. Kurt Röttgers, Kritik und Praxis. Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx (Berlin, New York: de Gruyter, 1975), S. 41.
21. Ebda., S. 50. Dass eine Theorie in ihrer Entfaltung immer auch ihre möglichen politischen Konsequenzen mitdenken muss, halten wir für ebenso richtig wie wichtig, wenn auch in der Realität mitunter für schwer einzulösen. Das spricht aber gerade für die in der Nachfolge Kants geforderte Verbindung von Theorie und Praxis.
22. Theodor. W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie (Stuttgart: Kohlhammer, 1956), S. 14, zit. nach Röttgers, S. 145.
23. Röttgers 1975, wie Anm. 20, S. 156.
24. Siehe dazu Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen (Berlin: Suhrkamp, 2014), S. 277-320.
25. Röttgers 1975, wie Anm. 20, S. 253.
26. Karl Marx und Friedrich Engels, Werke (Berlin: Dietz, 1956fff), im Folgenden zitiert als MEW, I, S. 344.
29. Röttgers 1975, wie Anm. 20, S. 275. — Siehe dazu auch Claus von Bormann, Der praktische Ursprung der Kritik. die Metamorphosen der Kritik in Theorie, Praxis und wissenschaftlicher Technik von der antiken praktischen Philosophie bis zur neuzeitlichen Wissenschaft der Praxis (Stuttgart: Metzler, 1974).
30. Klaus Hartmann, Die Marxsche Theorie. Eine philosophische Untersuchung der Hauptschriften (Berlin, de Gruyter, 1970), S. 80.
32. Karl Marx, ‘Kritik der Hegel‘schen Rechtsphilosophie’, in MEW I, S. 384. Auch wenn diese Zeilen mit Blick auf die Religion geschrieben wurden, gelten sie doch für das Marx‘sche Kritikverständnis insgesamt, steht Religionskritik doch am Anfang aller Kritik.
33. Falsch ist es deshalb freilich nicht.
34. Es geht im Folgenden weder um Wiederbelebung noch Idealisierung. Vielmehr interessiert uns die Frage, was in der kritischen Theorie von früheren Theorien übernommen und weitergeführt wurde und was davon bis heute Bestand haben könnte.
35. Max Horkheimer, ‘Traditionelle und kritische Theorie’ (1937), in Gesammelte Schriften, herausgegeben von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Nörr (Frankfurt am Main: Fischer, 1987-1990), Bd. 4, S.216.
36. Max Horkheimer, ‘Materialismus und Moral’ (1933), in Gesammelte Schriften Band 3: Schriften 1931–1936 (Frankfurt am Main: Fischer, 1988), S. 111–149, hier S. 131.
37. Horkheimer 1937, wie Anm. 35, S. 182.
40. Hans-Ernst Schiller, Was ist Kritische Theorie? Vortrag in Bochum vom 30.11. 2010, S. 3. http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/IMG/pdf/Schiller_Kritische_Theorie.pdf (eingesehen am 18.04. 2019).
41. Horkheimer 1937, wie Anm. 35, S. 193.
43. Horkheimer 1937, wie Anm. 35, S. 216.
45. Jaeggi 2014, wie Anm. 24, S.9.
57. Ebda., S. 279. — Siehe dazu auch Seyla Benhabib: »Kritik ist die subjektive Bewertung oder Entscheidung eines konflikthaften oder widersprüchlichen Prozesses – einer Krise.« (Übersetzung von Rahel Jaeggi) – Seyla Benhabib, Critique, Norm, and Utopia. A Study of the Foundation of Critical Theory (New York: Columbia University press, 1986), S. 19.
58. Jaeggi 2014, wie Anm. 24, S.280.
59. Ebda., S. 281. — Hier greift Jaeggi auf Überlegungen von Karl Marx auf, wenn er davon spricht, »daß wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen.« — Karl Marx, ‘Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern’, MEW 1, S. 344.
60. Jaeggi 2014, wie Anm. 24, S.281.
61. Horkheimer (1937), wie Anm. 35, S.170.
63. David Kaldewey, Wahrheit und Nützlichkeit (Bielefeld: transcript, 2013), S. 414.
65. Siehe Jens Wietschorke, Jens: ‘Does that matter?’, wie Anm. 5, hier S. 86-87.
66. Helmut Schmidt, ‘Forschung heißt, Verantwortung für die Zukunft zu tragen’, Die Zeit Nr. 3 /2011, https://www.zeit.de/2011/03/100-Jahre-KWG-Rede (eingesehen am 26.4.2019).
67. Jaeggi 2014, wie Anm. 24, S. 114.
68. Wir verweisen exemplarisch auf Arbeiten im Bereich der Migrationsforschung wie sie vom Göttinger Labor für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung unter Leitung von Sabine Hess betrieben werden, aber auch die beiden Bücher von Gilles Reckinger, Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas (Wuppertal: Hammer, 2013); und ders., Bittere Orangen. Ein neues Gesicht der Sklaverei am Rande Europas (Wuppertal: Hammer, 2018).
69. Haug 2012, wie Anm. 9, Sp. 39.
70. Theodor W. Adorno, Soziologische Schriften I, in Gesammelte Schriften, Bd. 8, herausgegeben von Rolf Tiedemann (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997), Sp. 139.
71. Wietschorke 2019, wie Anm. 65. S.89-90.
73. Dieser Text erörtert, wie eingangs gesagt, das Potential der Kritik für die empirische Kulturwissenschaft ausschließlich aus einer theoretischen Perspektive. Ein Blick auf die Praxis der Forschung in unserem Fach, aber auch in unserer Nachbardisziplin der Kultur- und Sozialanthropologie musste unterbleiben, wiewohl er aufschlussreich gewesen wäre. Wir verweisen für die Ethnologie lediglich auf den Ansatz der critical ethnography. Siehe dazu Richard Rotenburg, ‘Ethnologie und Kritik’, in Ethnologie im 21. Jahrhundert, herausgegeben von Thomas Bierschenk, Matthias Krings und Carola Lentz (Berlin: Reimer, 2013), S. 55-76. In der Empirischen Kulturwissenschaft / Kulturanthropologie / Europäischen Ethnologie fand, soweit wir das überblicken, bis heute wenig explizite Auseinandersetzung mit dem Kritikkonzept statt. Freilich gibt es einige Texte, die Kritik im Titel führen und mit Blick auf den Umgang mit dem Begriff einer Relektüre unterzogen werden müssten. Hier fallen einem zunächst die frühen Texte von Bausinger und Scharfe ein. — Hermann Bausinger, ‘Kritik der Tradition’, Zeitschrift für Volkskunde 65 (1969), 232-250. — Martin Scharfe, ‘Kritik des Kanons’, in Abschied vom Volksleben, herausgegeben von der Tübinger Vereinigung für Volkskunde (Tübingen: Selbstverlag, 1970), 74-84. — Zu nennen sind noch weitere: Elisabeth Timm, ‘Kritik der ›ethnischen Ökonomie‹’, in Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 120, 30 Jg. (2000), Nr. 3, 363-376. — Harm-Peer Zimmermann, ‘»sich eine Vergangenheit geben, aus der man stammen möchte«. Zur Kritik der Heritage-Kritik’, in Erzählungen als kulturelles Erbe – Kulturelles Erbe als Erzählung, herausgegeben von Ingo Schneider und Valeska Flor (Münster, New York: Waxmann, 2014), S. 47-62. — Ingo Schneider, ‘Kritik des kulturellen Erbes’, in Erzählungen als kulturelles Erbe – Kulturelles Erbe als Erzählung, herausgegeben von Ingo Schneider und Valeska Flor (Münster, New York: Waxmann, 2014), S. 33-46.