Alexa Färber
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Das kleine orange Buch von 1973 — EXPORT und hendrich, Stadt: Visuelle Strukturen1 — wirkt größer als ein DIN A5 Format, denn es ist schmaler. So liegt es gut in der Hand und fällt nicht nur deshalb angenehm aus der Reihe: Auch nach sechs Gesprächen mit Kolleg_innen, die das Buch mit jeweils anderen Interessen zuerst studiert und dann mit mir besprochen haben, lässt sich kein eindeutiges Genre ausmachen. Ist es nun ein aktivistisches Pamphlet, das die Stadtplanung der frühen 1970er Jahre aufmischen will? Ja, der Text von hermann hendrich legt dies zumindest auf den ersten Seiten nahe: »fotografisch können wir das gewordene festhalten, geschriebenes zeigt tradition, unser buch sollte jedoch den betrachter/leser anregen, sich seiner wünsche für die teile der Stadt bewusst zu werden, die er zu benützen gedenkt.« (S. 21) Er weist aber gleichzeitig auf eine der 1972-Ausgaben der gerade (1968) gegründeten und sich politisierenden Arch+. Die widmet sich genau dem Thema der damals zu erfindenden partizipativen Stadtentwicklung, die wir heute oftmals als Regierungstechnik verstehen. Und sowieso verflüchtigt sich der konkrete Aufruf zum Einmischen auf den folgenden Textseiten. Dazu haben Laila Huber und Michael Zinganel einiges zu sagen, wenn sie auf den formalen Dérive der Bild-Text-Anordnung oder den massentauglichen, weil auf Lehrmittel spezialisierten verlegerischen Ort dieses subversiven Büchleins aufmerksam machen.
Auch die Fotografien der eigentlichen Heldin des Buches, der Künstlerin VALIE EXPORT, entsprechen nicht den Erwartungen. Sie bleiben introvertierter als andere ihrer Arbeiten und zwar nicht deshalb, weil sie sich u.a. den Interieurs eines Gemeindebaus widmen, was sowohl Del Barrett als auch Işıl Karataş interessiert. Da springt zum einen das Leben in der Wohnbox ins Auge, das sich fotografisch formal als Kästchenmuster in einer Ansicht nach der anderen wiederholt. Empfindlich gestört wird die angebliche Kleinkariertheit bei genauem Hinsehen dennoch: von schiefen Bücherstapeln oder Küchenablagen, die mit Krimskrams vollgestellt sind. Das Interieur als Ort der Hausfrauenarbeit ist zum anderen bedrückend und weckt Assoziationen an das Brüsseler Alltagsterrain der sich selbst ermächtigenden Mutter, Prostituierten, Mörderin »Jeanne Dielman« aus dem Werk von Chantal Akermann.
Es ist also nicht diese Innenwelt an sich, die zu weniger performativen Arbeiten geführt hat. Vielmehr kommen konzeptionellen Aufgaben, die sich die Künstlerin in den unter dem Buchtitel »Visuelle Strukturen der Stadt« versammelten Arbeiten gestellt hat, ohne die wegweisende extrovertierte Haltung der Künstlerin aus, weil sie systematisch sein wollen. Deshalb durchquert EXPORT entlang einer mit dem Lineal auf dem Stadtplan gezogenen Linie die Stadt oder fotografiert während eines Tages im Stundentakt und von der immergleichen Position aus eine unspektakuläre Straße. Doch auch in diese Systematik sind Widersprüche eingebaut. Als systematische Flaneuse lässt sie sich gerade nicht treiben, sondern konterkariert die Idee der Straße als Raum bürgerlichen Müßiggangs. Der aus Fußgängerinperspektive festgehaltene öffentliche Raum ist im Wien der frühen 1970er Jahren nicht nur etwas finster und eng umbaut, sondern auch verkehrsorientiert, d.h.: vor allem autoorientiert. Und auch als systematische Beobachterin widmet sich Export dem Alltag zwar eher formalistisch. Dennoch gewinnt sie dem Alltag gerade in seiner Eintönigkeit, rund um die Uhr, ästhetische Qualitäten ab. Brigitta Schmidt-Lauber und Judith Laister erkennen darin den Realismus dieser auf den Stadtraum bezogenen Arbeiten. Wien ist zwar grau, aber clean. Vielleicht kann es ihr deshalb auch nicht, wie sonst, um außeralltägliche Interventionen gehen. Keine Körperkonfigurationen, kein Tapp und Tastkino. Um diese Perspektive wiederum umzudrehen, braucht es hendrichs Texte, die mal einer quasi-journalistischen Arbeitsalltags-Recherche ähneln, mal impressionistisch die Gemütslagen der Bohème in Wien und ihre Wege durch die Stadt erzählen.
1973 hat dieses Buch fotografisch und textlich eine Reihe der Themen versammelt, denen sich Johanna Rolshoven als Alltagskulturforscherin mit großer Genauigkeit und Hingabe widmet. Vom Stadtraum und der umkämpften Qualität von Öffentlichkeit, über Alltagsmobilität und die Vieldeutigkeit von Übergängen, bis hin zu weiblichen Überlebenspraktiken und feministischem Heldentum. Eine Triebkraft ist dabei die Arbeit an und mit der politischen Kraft kulturwissenschaftlicher Forschung und Lehre. Die Gespräche über das aus der Reihe tanzende Buch sind Auseinandersetzungen mit Johannas Vorstellungen einer offenen Stadt und Gesellschaft.
1. Valie Export (Fotografie) und Hermann J. Hendrich (Text), Stadt: Visuelle Strukturen (Wien u.a.: Jugend und Volk, 1973).