Till Neu
»Draußen und Drinnen bilden eine Zerstückelungs-Dialektik
und die offenkundige Geometrie dieser Dialektik verblendet uns,
wenn wir sie in den metaphorischen Bereich spielen lassen.
Sie hat die scharfe Dialektik des Ja und des Nein, die alles entscheidet.«
Gaston Bachelard 1975
Die beiden Sätze des einfühlsamen Phänomenologen Gaston Bachelard sind nicht leicht zu verstehen; im Folgenden spricht er von dem Drinnen und dem Draußen, dem Offenen und dem Geschlossenen als Systeme, Systeme von mythischer Tragweite.
Ein mythischer Ort mit einem mythischen Bauwerk hat mich ein Bild malen lassen.
Es ist ein Grundriss, die Rekonstruktion des Palastes von Knossos auf Kreta aus dem zweiten Jahrtausend v.Christus, den ich vor vielen Jahren durchwandert habe; er zeigt eine Struktur vielfältiger Öffnungen und Schließungen. Da sind Mauern, Türen und Fenster, Eingänge und Ausgänge, Wege und Plätze. Ein vielfältiges Draußen und Drinnen.
Zerstückelungsdialektik?
Nein, wir blicken nicht auf einen Palast im herkömmlichen Sinn, wir sehen auch keine Totenstadt, wie der Forscher Hans-Georg Wunderlich (1987) vermutete.
Eine kleine Stadt mit agglutinierenden Zellen breitet sich vor uns aus. Ohne Burg, ohne heroische Kultbauten, ohne Befestigungen, mit einem großen Platz in der Mitte.
Die Erforschung der minoischen Kultur, der älteren Palastzeit im zweiten Jahrtausend vor Christus ist von widerstreitenden Thesen geprägt. Erdbeben haben die Städte zerstört, möglicherweise auch die Folgen eines Vulkanausbruchs auf der Insel Santorin.
Auf Grund der Funde und überlieferten Kommentare entsteht ein Konsens, von einer Kultur zu sprechen, die ökonomisch florierte, sich friedlich entwickelte und in der Frauen eine gesellschaftlich wichtige Rolle spielten, wahrscheinlich auch als Priesterinnen. Darauf deuten Darstellungen auf Fresken und Münzen hin.
Vor allem die »imaginierten Rekonstruktionen« des ersten Ausgräbers Arthur Evans wurden als Phantasien heftig kritisiert. Erwähnenswert in jüngerer Zeit ist ein Fund des kanadischen Archäologen Mac Gillvray, der 1987 in Paleokastro eine halbverbrannte männliche Statuette aus Gold und Elfenbein fand; auf Grund seiner Materialität stufte der Forscher den Torso als göttliches Idol ein. Ein großes Echo — vor allem bei den Patriarchen! — fand seine These, daß in der Blütezeit des alten Kreta nicht nur Frauen, sondern auch Männer geherrscht haben sollen.
Darüber hinaus mußten diejenigen, die glaubten, daß auf Kreta eine matrilinear beeinflußte Gesellschaft existiert habe, im Jahr 2007 erfahren, dass eine der berühmtesten weiblichen Idole, die kleine Schlangengöttin im Museum von Boston, offenbar eine Fälschung ist.
Zurück zum »Draußen und Drinnen« : Wir, die Zeitgenossen modernster Baustoffe, haben die Zerstückelungsdialektik von Draußen und Drinnen, dieses scharf trennend ja oder nein, entkräftet. Mit einer großen Glas-Schiebewand können wir unsere Empfindung für Wieviel-Drinnen und Wieviel-Draußen dosieren. Würden wir uns aber in Knossos in dem städtischen Raum der Wege, Höfe, Sackgassen und Plätze bewegen, würden wir in dem Draußen eine erweiterte Dialektik spüren: rhythmische Wechsel von Enge und Weite, von Achse und Winkel, von Fassade und Nische, von Überdachung und freiem Himmel.
Eine scheinbar verwirrende Struktur von Räumen und Bauwerken, die sich verketten, wiederholen und abwandeln. Diesen räumlichen Strukturen des alten Kreta widmete sich die junge Archäologin Yasemin Leylek.
Sie promovierte 2013 an der Heidelberger Universität über Öffentliche Räume in der minoischen Kultur. Eine transdisziplinäre Studie der öffentlichen Sphäre und sozialen Interaktion in der Bronzezeit.
In einer intensiven Spurensuche hat sie in kleinen und großen Siedlungen sowie den Städten auf Kreta Bauwerke, Wege und Plätze erforscht, vor allem die Besonderheit der öffentlichen Freiflächen, Platzanlagen unter freiem Himmel (Hypäthralbauten). Überraschenderweise sieht sie eine Verwandtschaft zwischen der Multifunktionaltät bronzezeitlicher Stätten mit der in unserer Zeit modernen Vielschichtigkeit öffentlicher Plätze.
Keramikfunde lassen Schwerpunkte der Nutzung jener hypäthralen Bauwerke erkennen, so beispielsweise die Durchführung des Totenkults, gemeinschaftliche Gelage oder Festakte. Darüber hinaus spricht sie von performativen Handlungen an räumlichen — wie ich sie bezeichnen würde: — Schnittstellen zwischen den sozialen Schichten, den Eliten und dem breiteren Publikum
»Die Untersuchungen einzelner Stätten in unterschiedlichen sozialen Sphären
geben dabei Aufschlüsse über die kulturelle Entwicklung,
die soziale Hierarchisierung und die Einbindung der Öffentlichkeit
in diesen Prozess.«
Blicke ich jetzt auf Bachelard zurück, auf eine Bewegung von Drinnen nach Draußen, kann ich am ehesten in der notwendigen ENTSCHEIDUNG, die eine Raumzone verlassen und die andere betreten zu müssen, seine Empfindung einer »Zerstückelungsdialektik« nachvollziehen.
Das, was ich mir vom dem Leben in dem Grundriß von Knossos vorstelle, einem Herumgehen, Heraus- und Hereingehen, erscheint mir dagegen so leicht, so schwebend und auch so geborgen in seinem Zusammenhang. Drinnen und Draußen: eine lebendige Interaktion.
In meinem utopischen Geist bleibe ich bei der Vorstellung vom alten Kreta als einer zeitweilig ausbalancierten Gesellschaft, ohne Kriege und mit relativ geringer Hierarchie.
Literatur
Buchholz, Hans-Günther. 1987. Ägäische Bronzezeit (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
Gaston Bachelard. 1975. Poetik des Raumes, aus dem Französischen von Kurt Leonhard (Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein)
Hans-Georg Wunderlich. 1987. Wohin der Stier Europa trug. Kretas Geheimnis und das Erwachen des Abendlandes (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt)
Leylek, Yasemin. 2013. Öffentliche Räume in der minoischen Kultur. Eine transdisziplinäre Studie der öffentlichen Sphäre und sozialen Interaktion in der Bronzezeit. Dissertation Univertsität Heidelberg (Heidelberg: Universitätsbibliothek Heidelberg), https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/14684/ [accessed 2019-02-12]
Marinatos, Spiridon. 1986. Kreta, Thera und das mykenische Hellas, mit Aufnahmen von Max Hirner (München: Hirmer).