Gilles Reckinger
Im Jahr 2009 begab ich mich auf der italienischen Insel Lampedusa erstmals auf die Spuren eines Phänomens, das damals schon annähernd zwanzig Jahre alt war: die verstörende Realität tausender Menschen, die mit wackligen Booten versuchten, Europa über das Mittelmeer zu erreichen. In den Medienberichten, der politischen Rhetorik, und selbst im Engagement mancher NGOs, die sich mit dem Phänomen beschäftigten, bekamen die Menschen in den Booten zumeist weder ein Gesicht noch die Gelegenheit, sich hörbar zu machen.
Der Umgang der Migrant_innen mit ihren Sprachen stand damals nicht im Zentrum meines Interesses. Mit meinen hegemonialen Kolonialsprachen im Gepäck konnte ich mich bestens ausgestattet fühlen, ihnen forschend entgegenzutreten. Die möglicherweise problematischen Effekte der Verwendung bestimmter Sprachen schienen ohnehin unauflösbar — nur Sprachlosigkeit hätte übrigbleiben können. Die praxeologische Verstehensarbeit, der ich mich verpflichtet fühle, setzt in der Tat zumeist stillschweigend die selbstverständliche Verständigungsmöglichkeit auf sprachlicher Ebene voraus, als würden über Sprachwahl, den Grad der Sprachbeherrschung, den Akzent, die Fähigkeit oder Unfähigkeit, Dinge zu verbalisieren etc. nicht bereits erhebliche Ungleichheitsbeziehungen im Forschungssetting entstehen oder zementiert werden. Dabei hat gerade Pierre Bourdieu ja viel über die Konsekrations- und Stigmatisierungseffekte geschrieben, die mit der Beherrschung oder dem Fehlen des »richtigen« Französisch einhergehen. Vielleicht liegt diese mangelnde Sensibilität für die sprachlichen Dynamiken und Aushandlungsprozesse an der strukturellen Ein- oder Wenigsprachigkeit nahezu aller westeuropäischen akademischen Kulturen und ihrer Exponent_innen — auch der Europäischen Ethnologie.
Es war damals, im Jahr 2009, schlicht unmöglich, auf dem winzigen, gerade einmal neun Kilometer langen Felsen Lampedusa in Kontakt mit Geflüchteten zu kommen. Dass Lampedusa, die »Insel der Bootsflüchtlinge«, wie sie in den Medien und in der Folge von Politiker_innen sehr zum Missfallen der Bewohner_innen qualifiziert wurde, paradoxerweise die einzige Gemeinde Italiens war, in der es »keine Ausländer [gab]« — wie Stefano Liberti (2008) einen lokalen Restaurantbesitzer zitiert — lag daran, dass die nationale Regierung, aber auch, in geringerem Ausmaß, Teile der lokalen Bevölkerung eine große Bandbreite von sich zum Teil widersprechenden Strategien verfolgten, um das Phänomen der Bootsmigration aus den Augen der Öffentlichkeit zu verdrängen. Die Boote landeten meist nicht eigenständig im Hafen, sondern wurden entweder von der Polizei an eine militärisch abgeriegelte Mole eskortiert, oder die Menschen wurden bereits zuvor an Bord der Polizeiboote geholt. An der Mole angekommen, wurden sie meist rasch und ohne dass es eine zivilgesellschaftliche Kontrolle hätte geben können, in einen Bus verfrachtet, der sie ins nahe gelegene, im Inselinneren versteckte Erstaufnahmelager brachte, das seinerseits von Exekutivbeamt_innen bewacht wurde. Von hier wurden die Menschen meist nach wenigen Tagen weiter aufs italienische Festland oder nach Sizilien gebracht, wo ihr administratives Verfahren begann. Viele lampedusani begrüßten diese Vorgehensweise, fürchteten sie doch, die prekäre Einkunftsquelle des Tourismus, von der die Insel weitgehend abhängig ist, könne unter der negativen Berichterstattung — nicht unter der Anwesenheit der Geflüchteten — leiden. Zahlenmäßig ließ sich solch ein Zusammenhang ohnehin nie nachvollziehen und tatsächlich steigt die Zahl der Übernachtungen seit Jahren konstant an. Zahlreiche lampedusani sahen sich durch die Praxis der polizeilichen bürokratischen Verwaltung aber auch künstlich auf Distanz gehalten zu den Menschen, die über ihre Insel nach Europa kamen, und denen sie in den ersten Jahren, als der Staat noch nicht als Akteur auf den Plan getreten war, stets die Hand entgegengestreckt hatten.
Erst einmal waren also nicht die (mögliche) Sprachlosigkeit oder eventuelle Sprachbarrieren zwischen den Bootsflüchtlingen und mir, sondern ihre Unsichtbarkeit im öffentlichen Raum ein Problem für mich, weil sie für mich physisch schlicht nicht erreichbar waren. Nach den unbefriedigenden medialen Darstellungen als amorphe Masse, die mich ja gerade nach Lampedusa gebracht hatten, um ein differenzierteres Bild zu gewinnen, war Unsichtbarkeit nicht gerade das, was ich erwartet, geschweige denn, was ich erhofft hatte.
Dabei galt mein Forschungsinteresse eigentlich gar nicht in erster Linie den Bootsmigrant_innen, sondern allen Menschen, die sich auf der Insel aufhielten: Journalist_innen, Polizist_innen, Militärs, und gerade auch den Einheimischen, die im Übrigen auch erst in den 1840er Jahren aus den unterschiedlichsten Gegenden des Königreichs beider Sizilien dazu bewogen worden waren, auf der Insel zu siedeln. Ich fragte mich, wie die kleine Inselgesellschaft von etwa fünfeinhalbtausend Einwohner_innen mit dem Phänomen der Bootsmigration lebte, und, angesichts der um sich greifenden rassistischen Beschränkung Europas, ob ich hier eine xenophobe Gesellschaft vorfinden würde.
Sprachlich wurde es damit aber keineswegs besser: mein Schulitalienisch war eingerostet, der lampedusanische Dialekt für mich überhaupt unverständlich.
Die erste Begegnung, oder, ehrlicher, den ersten Sichtkontakt zu einem Bootsmigranten hatte ich im März 2009, als ich mit Kolleginnen im Hafen Videoaufnahmen für einen Dokumentarfilm machte. Wenige Tage zuvor waren durch ein Loch im Zaun des Flüchtlingslagers zehn Menschen ausgebrochen.
Wir filmten das geschäftige Treiben beim Beladen der in den Wintermonaten nur höchst unzuverlässig verkehrenden Versorgungsfähre aus Sizilien, weniger wegen der enormen Polizeipräsenz (auf vier Einwohner_innen kam damals ein/e Polizist_in), sondern weil die Ankunft der Fähre in den Wintermonaten jedes Mal ein Event war, dem zahlreiche lampedusani beiwohnten: Es war ein Moment, in dem die Insel eine Brücke zum Festland zu haben schien. Die fix auf einem Stativ aufgebaute Kamera, so eingestellt, dass sie das Beladen der Fähre im Blick hatte, dokumentierte, wie wenig kooperativ sich die Lastwagenfahrer der Polizei in deren frenetischer Suche nach den entflohenen Migrant_innen zeigten, und wie auf einmal unvermittelt ein Polizist von der Brücke der Fähre hinunter auf einen offenen LKW-Anhänger deutete, worauf sich ein ganzer Trupp uniformierter und Anti-Terror-Polizist_innen in Zivil in Bewegung setzte, um den Menschen, der sich dort versteckt hielt, festzunehmen und abzuführen wie einen Schwerverbrecher. Der Verhaftete sagte während der ganzen Szene kein einziges Wort.
Meine zweite Begegnung mit einem Bootsmigranten in Lampedusa hatte ich erst mehrere Forschungsaufenthalte später im Jahr 2011, inmitten der tunesischen Revolution:
» In der Nähe der Militärmole steht ein Mann auf den Felsen, die Hände in den Taschen, und blickt aufs Meer. Ich rufe ihm ein buongiorno zu. Er antwortet ein paar Sätze auf Italienisch, dann frage ich ihn, ob er lieber Französisch sprechen möchte. Ja, das sei seine zweite Sprache, das sei einfacher. Kalil kommt aus Tunesien. Er ist ausgebildeter Heizungs- und Klimaanlageninstallateur. Er ist vor vier Tagen angekommen, ›auf einem Boot mit 55 anderen Leuten, darunter zwei Frauen‹. Vier Tage waren sie auf See, eine Nacht lang fuhren sie im Kreis, weil ihr GPS-Gerät kaputt gegangen war. Es sei sehr gefährlich gewesen. Sie baten ein ägyptisches Fischerboot, die Finanzpolizei zu alarmieren. Zweieinhalb Stunden später war das Boot zur Stelle. Es war Rettung in letzter Minute: die Insassen schöpften ständig Wasser ab, doch das Boot lief voll Wasser und war bereits kurz vor dem Untergehen. Viele seien sehr krank gewesen, aber gestorben sei niemand.
Es ist seltsam irreal, einfach mit jemandem am Meer zu stehen und zu hören, wie er nur knapp dem Tod entkommen ist, nur wenige Tage zuvor. Ich höre die Worte, die er sagt, ich spreche mit ihm, ich kann ihn berühren, aber die Distanz zwischen seiner Welt und meiner Welt ist unendlich. Wir können uns nicht begegnen.
Er fragt mich, ob ich aus Frankreich komme, ich sage: ›Nein, aus Luxemburg.‹ Er verbeugt sich ein wenig und wiederholt mehrmals: ›Enchanté – sehr erfreut.‹ Seine Ehrfurcht beschämt mich. Sie richtet sich ja auch an das, was ich symbolisiere — Europa —, doch das macht er an meiner Person fest.
Als ich wieder aufbreche und ihm alles Gute wünsche, drückt er mir fest die Hand und sagt: ›Merci, Gilles, mon frère‹. « (Reckinger 2015)
Mir fiel es leichter, mich mit den Migrant_innen zu verständigen als mit den Einheimischen, da ich besser Französisch und Englisch spreche als Italienisch. So erfuhr ich unmittelbar, dass die identitätsstiftenden Elemente des Kolonialismus auch vor mir, dem in postkolonialer Reflexion geschulten Anthropologen, nicht halt machen. Viele der französischsprachigen Migrant_innen, die ich in den kommenden Jahren auf den Obstplantagen Kalabriens kennen lernte, hielten mich für einen Franzosen und schienen mir damit größere Anerkennung zu gewähren als den Italiener_innen, mit denen sie weitgehend schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Frankreich schien hingegen symbolisch als besserer Ort der Freiheit und der Menschenrechte zu gelten. Das Land erscheint tatsächlich vielen, die in Italien festgesetzt sind, wie ein Versprechen eines respektvollen Lebens, in dem die ehemals kolonisierten Subjekte eine Teilhabechance bekommen — als sei das in den Kolonien jemals auch nur annähernd passiert.
Ebenfalls in der Zeit der tunesischen Revolution traf ich in Lampedusa auf der Via Roma, der Hauptstraße des Ortes, drei junge Männer, die ich zum Kaffeetrinken in eine Bar einlud. Im Zuge des arabischen Frühlings hatte die Regierung in Rom entschieden, den Menschen auf der Insel zumindest tagsüber freies Geleit zu gewähren: Wohin hätten sie auch verschwinden sollen?
» Sie sagen, sie seien 20 und 22 Jahre alt, aber sie sehen deutlich jünger aus. Beim Jüngsten frage ich mich, ob er überhaupt schon 18 ist. Seine Gesten sind noch schlaksig wie die eines Jungen, der noch im Wachstum ist. Sie sprechen alle drei kaum Französisch, immer wieder mischt sich Arabisch darunter, einer mischt manchmal ein paar Brocken Englisch darunter. Später erzählen sie mir, dass sie in Tunesien alle möglichen europäischen Fernsehsender gesehen haben, das könnte eine Erklärung für den Sprachmix sein. Sie haben noch weniger Vorstellungen von ihrer Zukunft in Europa als die anderen, mit denen ich sprach. Es sind nur Träume, und sie haben ja auch nicht mehr, woran sie sich festhalten können: der Jüngste ist technischer Zeichner, die anderen beiden sind Pizzabäcker und Kellner. Sie kommen aus dem tunesischen Hinterland. Aufgrund ihrer geringen Sprachkenntnisse verschlechtern sich ihre Chancen in Europa gleich noch mehr. Und sie haben kaum Vorstellungen, was sie erwartet. Der eine sagt, sein Vater sei seit vielen Jahren legal in Lyon, ›69! ‹ ruft er, ›Département 69!‹ Der andere sagt, er habe Verwandte in Roubaix. ›Welche Nummer ist das‹, fragt der Dritte — ›Ich glaube 59‹, sagt der andere. Mir dreht der Kopf. Woher kennen sie wohl die Nummern der französischen départements? Der dritte Junge sagt, ihm sei es egal, wohin er komme: »Hauptsache Europa. Seit wir klein waren, haben wir von Europa geträumt. Alle jungen Leute in Tunesien träumen von Europa, alle wollen nach Europa. In Europa ist alles besser. « (Reckinger 2015)
Aber sie mussten in dieser Zeit, im Gegensatz zu den Weißen1 Gästen, ihren Kaffee aus Plastikbechern trinken: So wie ihre Individuation nicht vorgesehen war, egal, welche Sprachen und Träume sie mitbrachten, wurden sie kollektiv als die bedrohlichen Anderen auf Distanz gehalten.
1. Ich schreibe die Begriffe Afrikaner/Afrikanerinnen sowie Schwarze und Weiße kursiv und mit einem Großbuchstaben am Anfang, um zu markieren, dass es sich bei diesen Begriffen um sozial und kulturell konstruierte Kategorien handelt, die sich aus kolonialem Erbe und rassistischem Wissen über die Anderen speisen. Der grammatikalische Stolperstein erinnert daran, dass es solche Essentialisierungen sind, die rassistisch bedingte Ungleichheit zementieren. Er läuft auch der eurozentrischen Vorstellung entgegen, Afrika sei ein Land. Auch meine sprachliche Selbstbenennung als Weiß ist wichtig, weil sie die zumeist nicht markierte Kennzeichnung meiner Hautfarbe deutlich macht, die mich mit zahlreichen, meist nicht bewusst wahrgenommenen Privilegien ausstattet. Auch die Kategorie der Einheimischen macht erst Sinn in Abgrenzung von den Anderen.
Nach Abschluss meiner Forschung in Lampedusa versuchte ich, das Desiderat einzulösen, dass es mir auf der Insel nicht gelungen war, den Migrant_innen mehr als nur oberflächlich zu begegnen. Ich begab mich nach Kalabrien, dorthin, wo viele der Bootsmigrant_innen von Lampedusa zur Identifizierung gebracht wurden.
Noch während des laufenden Verfahrens werden die Menschen aus den Lagern verwiesen und finden sich ohne Papiere, finanzielle Unterstützung oder Wohnmöglichkeit auf der Straße wieder. So freigesetzt müssen sie mit informeller Arbeit zu überleben versuchen und landen meist in großer Zahl in der landwirtschaftlichen Erntearbeit, wo sie zu sklavereiähnlichen Bedingungen um ihr Überleben schuften, nachdem sie sich aufgrund ihrer Illegalisierung in vollkommene Abhängigkeit zu ihren Arbeitgeber_innen haben begeben müssen. Doch auch nach Abschluss des Asylverfahrens bessert sich die Situation für die wenigsten. All diese Menschen, ebenso wie jene, die aufgrund der Dubliner Verordnungen nach Italien zurück geschoben wurden oder Menschen mit Schwarzer Hautfarbe, die bereits seit Jahrzehnten legal in Italien gearbeitet hatten, sozialversichert waren, Steuern gezahlt haben und im Zuge des grassierenden Rassismus ihre Arbeit verloren haben, finden sich auf diesen Arbeitsmärkten wieder. Die Arbeitsbedingungen sind katastrophal, der — nur in der dreimonatigen Saison erzielbare — Maximalverdienst von 150 bis 300 Euro und die Weigerung der meisten Vermieter_innen, ihnen eine Wohnung zu überlassen, zwingt die Menschen in Wohnverhältnisse, die jeglicher Beschreibung spotten.
Seit 2012 suche ich die Menschen regelmäßig in ihren informellen Slums und Waldcamps aus Zelten, Karton, Wellblech, Plastik und Holzpaletten in der Ebene von Gioia Tauro auf, um an ihrem Alltag teilzunehmen und ihre Lebensumstände und Handlungsperspektiven verstehen zu lernen.
In den Slums um Rosarno leben mehrere tausend Menschen aus subsaharischen Ländern, viele aus Westafrika, aber auch aus Zentralafrika und dem Horn von Afrika. Sie leben in großer Beengtheit, meist nach Sprachgruppen, Regionen oder Religionen organisiert, aber alle sind mit allen im Kontakt, denn ein Überleben ist nur durch die Solidarität aller mit allen möglich.
Dabei ist Italienisch oft Verständigungssprache zwischen Männern verschiedener Herkunft. Immer wieder erstaunt es mich, wie schnell die Menschen lernen, sich auf Italienisch zu verständigen. Es beeindruckt mich umso mehr, als sie dem Land, das ihnen jegliche Perspektive verwehrt, damit große Bemühungen um Anpassung und Teilhabe entgegenbringen.
Die drei Sprachen, auf deren Basis ich zumeist mit den Bewohnern und Bewohnerinnen kommunizierte, sind allesamt Kolonialsprachen, meine anderen Sprachen erwiesen sich als nutzlos. Ich begann deshalb, Arabisch zu lernen, eine Sprache, die in den Slums ebenfalls viel verwendet wird, denn die Menschen tragen jenseits der körperlichen und psychischen auch die sprachlichen Spuren ihrer Migration — was Auskunft gibt über die Dauer der Reise, und wohl auch darüber, dass die Migrationsbewegung keinesfalls immer nach Europa, sondern oft in arabischsprachige Länder gerichtet war. Doch Arabisch ist ebenfalls eine Sprache, die in vielen Teilen Afrikas ein Dominanzverhältnis spiegelt, so dass mein methodischer und forschungsethischer Anspruch, die Menschen aus ihrer Perspektive zu verstehen aufgrund meines Unvermögens, auch nur eine einzige Afrikanische Sprache zu sprechen, nicht erfüllbar erschien. Denn welche hätte ich lernen sollen?
Mit der Zeit wurde mir indessen klar, dass ich mit Italienisch, Französisch und Englisch in der Kommunikation sehr weit kommen konnte. Die sprachliche Flexibilität und Anpassungsfähigkeit auf Seiten der Slumbewohner_innen untereinander und mir gegenüber erlaubt uns, miteinander zu sprechen. Es sind andauernde gegenseitige Anpassungsbemühungen, die teils bewusst, teils unbewusst passieren. Diese Aushandlungs- und Akkomodationsprozesse werden oft sowohl untereinander als auch mir gegenüber thematisiert. Die eklektische, flexible Nutzung der Möglichkeiten von Sprachen und Dialekten beeindruckt mich bei den Bewohner_innen immer wieder. Sowohl große Afrikanische Sprachen als auch Kolonialsprachen und die lingua franca Italienisch werden laufend vermischt, angepasst und überwunden.
Der Bildungsstand der Erntearbeiter_innen ist unterschiedlich: auch wenn es vereinzelte Analphabet_innen gibt, verfügen die meisten mindestens über einen Pflichtschulabschluss, oft darüber hinaus jedoch über eine handwerkliche Ausbildung, die Reifeprüfung oder einen Hochschulabschluss. Aber auch die Menschen, die kaum die Schule besuchen konnten, sind mindestens viersprachig. Alle sind zumindest in der Lage, Teile der Grammatik und des Wortschatzes von Sprachen in einem dynamischen Prozess des translanguaging so zu verwenden, dass sie als Brückensprachen zwischen Menschen fungieren können, die ansonsten nicht miteinander kommunizieren könnten. Auch hier in Italien lernen die Bewohner_innen voneinander neue Kolonialsprachen als Brückensprachen, die in ihren Herkunftsländern keine nennenswerte Relevanz hatten. Eine — ohnehin ideologische und einschränkende — klare Abgrenzbarkeit von Sprachen widerlegt sich in den Slums von Rosarno jeden Tag aufs Neue. (Reckinger 2019)
Auch wenn Begriffe wie Volk, Nation oder Landessprache in monolingual verfassten beziehungsweise sich monolingual entwerfenden Gesellschaften in jüngster Zeit wieder Konjunktur haben und als Unterscheidungskategorien herangezogen werden, um eine Deckungsgleichheit des nationalstaatlichen Territoriums mit den darin scheinbar legitim Lebenden zu konstruieren und damit wirkmächtige Ausschlusspraxen zu rechtfertigen, sind doch die meisten europäischen Länder seit Jahrhunderten fundamental von Sprachvielfalt gekennzeichnet.
In meinen Forschungen — auch in den Herkunftsländern der Migrant_innen — begegnen mir immer wieder Menschen, die Europa, seine Länder und vor allem seine Sprachen besser kennen als die meisten Europäer_innen. Kosmopolitismus, Vielsprachigkeit, transnationale Beziehungen und multilokale Lebenswelten sind in ihren Biographien und sozialen Beziehungen vollkommen selbstverständlich und unprätentiös realisiert — einfach Alltag.
Entgegen den in Europa vorherrschenden Zweifeln, ob der Kontinent die »Last« der Migration aus Afrika und dem Nahen Osten tragen könne, wäre zu fragen, ob Europa den transnationalen, multilingualen Habitus und damit diese der Globalisierung besser angepassten Lebensstile nicht im Gegenteil dringend benötigt, um mit eben dieser Globalisierung überhaupt Schritt halten zu können. Würden das Sprachenkapital, das Erfahrungskapital und die Weltgewandtheit der Migrant_innen anerkannt werden, könnten sie in Europa als das begriffen werden, was sie seit Jahrhunderten waren, nämlich als Chance für Erneuerung und Entwicklung und als ganz selbstverständlich aktiv am gesellschaftlichen Geschehen Beteiligte.
Literatur
Liberti, Stefano. 2008. A sud di Lampedusa. Cinque anni di viaggi sulle rotte
dei migranti (Roma: edizioni Minimum fax).
Reckinger, Gilles. 32015. Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas (Wuppertal: Edition Trickster im Peter Hammer Verlag).
Reckinger, Gilles. 22019. Bittere Orangen. Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa (Wuppertal: Peter Hammer