Sabine Eggmann, Susanna Kolbe und Justin Winkler
»Philosophie ist keine Substanz, sondern eine Intensität, die plötzlich jedes Sachgebiet erfüllen kann: Kunst, Religion, Wirtschaft, Poesie, Verlangen, Liebe, sogar Langeweile, sie ist eher so etwas wie Wind, Wolken oder Sturm. Wie diese schafft, schüttelt, verwandelt und zerstört sie den Ort, an dem sie produziert wird, an dem sie aber ebenso unvorhersehbar verschwindet.«
Giorgio Agamben (2016)
Ersetzen wir »Philosophie« in der von Giorgio Agamben in einem Gespräch gemachten mit »Kulturanthropologie«, dann befinden wir uns im fachlichen Feld und im Selbstverständnis der Jubilarin, Johanna Rolshoven: Wildern in allen Lebensbereichen und durch ein ganzes akademisches Leben hindurch ist angesagt. Denn paradoxerweise kommt anders keine Kompetenz für die Lebens- und Denkzusammenhänge zusammen.
Die Sammlung von Beiträgen, die Sie im Buch oder auf dem Bildschirm vor sich haben, sind Freundschaftsgaben zu einem runden Geburtstag. Nachdem die Jubilarin über Jahrzehnte auf ihrem dreissigsten Geburtstag ausgeharrt hat, ist die Einsicht gewachsen, dass das Alter doch auch Vorteile hat. Wir, die die Beiträge bis zum Geburtstag am 12. Juli 2019 treuhänderisch eingesammelt und in digitalem Geschenkpapier vor den Schwärmen der Suchmaschinen versteckt haben, freuen uns vor allem über deren Vielfalt. Sie spiegeln das wider, was uns zu Weggefährtinneni von Johanna gemacht hat: die Nicht-Schule, das Immer-weiter-Gehen mit einer Prise Charisma und viel Inspiration.
Dass die Geburtstagsgabe als Website angedacht wurde, ist Zeichen der Zeit und Symptom für in der numerischen Wissenschaftskultur brüchig gewordene Fachgrenzen. Es ist zugegebenermassen schwierig, Zuneigung zwischen denkenden und beobachtenden Menschen mit herbariumsartig zwischen Buchdeckel gepressten Fussnoten auszudrücken. Alle Beiträgerinnen und Beiträger haben sofort das freie Format begrüsst, und es weht uns aus den Beiträgen der Duft dieser Freiheit entgegen. Vielleicht nicht nur einer Freiheit zu Denken und Gedanken zu gestalten, in Wort, Bild und Klang, sondern auch der Gelassenheit als eines gelassen Werdens, sich Zeit zum Denken zu nehmen, die Zeit, die im Tagesbetrieb einer sich transformierenden Academia immer knapper wird.
Reisen ?
Die Transformation der Academia hat uns das Reisen mit dem Fragezeichen ihres Zieles nahegelegt. »Wohin geht die Reise?« war unsere Frage, durchaus nicht im Sinne der Reiseveranstalterinnen (Wissenschaftsverwalterinnen, Kunstförderinnen, Raumfahrtsingenieurinnen), die für ihre Kundinnen erstens wissen wollen, wo das Ziel der Reise ist, und die, zweitens, eine Destination ohne das Prädikat »sehr empfehlenswert« nicht im Sortiment behalten. Ein als Ende verstandenes Ziel wird nur bei Abdankungen oder nach Flugzeugkatastrophen deutlich, und es ist unerquicklich. Die Frage geht weniger nach dem Ankommen, noch nicht einmal wirklich dem Unterwegssein, sondern nach den Motiven für das Aufbrechen, zum Fragen nach dem Fragen, das Kunst und Wissenschaft ausmacht. Johanna verwehrt sich der Idee, dass sich »Wissen« in Plastiktüten (die ohnehin demnächst verboten sind) sammeln und in Dagobert Ducks Wissensspeicher anhäufen liesse. Nichts ist toter als eine so verstandene Wissenschaft. Dann lieber ewig dilettieren, wie Lea Haller (2019, auf dieser Website) vorschlägt.
Viele Beiträgerinnen haben das Reisen zwanglos genauso auf ihren jeweiligen Sinn und Lebensumstand übertragen und ihre persönlichen Fragen auf das Vehikel geladen; einige nehmen es wörtlich, brechen aber diese Wörtlichkeit, damit ihre Texte nicht als touristische Reiseanleitung missverstanden werden; einige wenige sind am Thema verzweifelt, was auch wieder nicht verwundert.
In Italo Calvinos Collagenwerk Die unsichtbaren Städte von 1972 (2007) geht es um die Art des Reisens, die substanziell Spekulation jenseits des naiven deskriptiven Zugriffs ist. In Calvinos Buch stellt die Instanz Kublai Khan dem Weltreisenden Marco Polo die Frage, »Spielt sich deine Reise nur in der Vergangenheit ab?« — um kurz danach zu fragen, »Reist du, um deine Zukunft wiederzufinden?«. Zweifellos geht es bei diesem Reisen nicht um eine gebuchte Fahrt zu Naturdenkmälern oder solchen der Antike. Nehmen wir das Wort Spekulation in seiner Bedeutung des Spiegelns, erscheint also das Reisen als die beständige Spiegelung des eigenen Wegefindens.
»Reisen« meint hier vor allem qualifizierte Bewegung. In der Frage, wohin diese führt, verwenden wir nicht das Wort »Mobilität«, weil dieses alltagskonventionell vorschnell zu der Frage nach unseren Verkehrsmitteln führt. Wir erinnern uns, dass Themen der Tourismusforschung in den 1970er Jahren oft noch anrüchig waren, weil geargwöhnt wurde, die Forscherinnen würden sich damit eine schöne Zeit unter Palmen machen wollen. Dennoch ist es die Kommission Tourismusforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, aus der die Themenfelder Mobilitäten-Regime herausgewachsen sind. Man beachte die Mehrzahl, die sich eingestellt hat, und wir hätten gerne auch gefragt »Wohin gehen die Reisen?«, wenn das inzwischen nicht wieder nach Pensionistenglück klingen würde.
Der Rückblick — ganz kurz, damit die prospektive Frage des »Wohin« nicht von der Vergangenheitsbetrachtung neutralisiert wird — zeigt, dass es Johanna um das Aufbrechen der Mobilitätsbegrifflichkeiten und ihre Verankerung in einer kulturellen Phänomenologie und Analyse ging. Etwa zeitgleich mit ihrer Auseinandersetzung hat in den 1990er Jahren, von der Soziologie kommend, der mobility turn seine Kreise gezogen. Dieser hat ihre Arbeit insofern durchkreuzt, als eine grosse Zahl junger, männlicher, karrierebewusster Soziologen ohne phänomenologische Skrupel sich der Mobilitätsthemen bemächtigte. In den Nullerjahren drängte es sich ihr auf, die Mobilität — wie den Raum — als Triade zu konzipieren, in der das Wohin der Ziele oder Motive eines der drei Momente bildet; die Beweglichkeit oder Motilität das (kulturelle) Bewegungskapital ein weiteres, und die Bewegung oder Emotion, das dritte. (Rolshoven 2018) Triaden, hat sie festgestellt, halten das Rad der Dialektik und damit des Deutens in Schwung.
Wildern ?
Unsere oben gemachte Bemerkung, dass für die Jubilarin Wildern angesagt sei, erinnert daran, dass Johanna Michel de Certeaus (1990) Konzept des »kulturellen Wilderns« (braconnage culturel) als (selbst)bewusste Praxis früh unterschrieben hat. Als Schülerin der betont quellenkritischen Schule eines Martin Scharfe durfte sie das, weil sie zwischen Originalen, Simulationen und Halluzinationen unterscheiden kann, eine Fähigkeit, die mit der auch im akademischen Denken immer mehr Platz greifenden digitalen Dupliziertechnik immer dringender gebraucht wird.
Die Menschen, die die Fachgebiete und Sprachen verkörpern, waren der Jubilarin wichtiger als jede Art von falscher Korrektheit. Lieber mit dem Revolver der Försterinnen-Grossmutter herumspielen, mit dem Kalkül der Winzerinnen und dem Rausch der Weintrinkerinnen, mit der eigenen familiären katalanisch-limburgisch-lothringischen Herkunft, mit den französischen Denkerinnen und Widerstandskämpferinnen, mit dem Gehen in den Städten — dem eigenen und dem der anderen —, mit der Zuwendung zu denkfähigen und denkwilligen Studentinnen und Kolleginnen. Und mit dem sich Einlassen auf die Familie, an deren Gründung sie zwischendurch fast nicht mehr geglaubt hatte.
In Italo Calvinos Collagenwerk Die unsichtbaren Städte von 1972 (2007) versucht die Instanz Marco Polo zu erläutern, wie sich die Vergangenheit im Fortgang der Reise allmählich ändere, »da sich ja die Vergangenheit eines Reisenden gemäss der Reiseroute ändert«, wie sich an fremden Orten eine Fremdheit einstellt bezüglich dessen, was die Reisende selbst nicht mehr ist oder nicht mehr besitzt. Das Fremde und das Vertraute spiegeln und löschen einander gegenseitig. Wie könnte man das, was bewegte Kulturanalyse ist, besser bildhaft ausdrücken?
Die Beiträgerinnen zu dieser Geburtstagsgabe stammen konsequenterweise nicht nur aus der Wissenschaft. Die einheitliche Gestalt, die die Beiträge durch unsere Redaktionstätigkeit angenommen haben, mag das hier und dort etwas übertünchen, auch wenn die Paginierung einfach der Reihenfolge der Eingänge der Beiträge folgt. Wir versuchen, die Vielfalt der Zusammenhänge, in denen die Beiträgerinnen ihre Arbeit und ihre Werke entwickeln, gar nicht erst in einer trockenen Liste auszubreiten. Jedefrau kann das beim Durchblättern erkennen und geniessen. Wer detektivisch vorgeht, wird auch die Rollen- und Registerwechsel einzelner Vertreterinnen erwittern.
Insofern ist diese Geburtstagsgabe auch unbestrebt, eine ständische, auktoriale oder autorisierte Werkliste der Jubilarin zu präsentieren – das tut diese noch während einiger Jahre selbst, auf Homepage ihres Instituts. Damit ist eine Art der Offenheit angezeigt, die sich keine Leitplanken oder Geländer für die Zukunft oder gar für alle Zeiten wünscht und denkt. Der Molo Audace (vorfaschistischer Name Molo San Carlo) in Triest, dessen Bild die Website während der Zeit ihrer Entstehung illustriert, ist eine dafür symbolisch offene Struktur: Wären hier Geländer, würde nicht nur der Blick auf den Horizont des Meeres verbaut, sondern könnten auch die Schiffe weder richtig anlegen noch entladen oder beladen werden. Wo nichts hereinkommt, kann auch nichts hinausgehen, entsteht keine Imagination vom Horizont, dem markantesten Phänomen des Meeres. Wer nicht schwimmen mag, schickt seinen Blick auf Reise und geht dann den Weg von der Spitze der Mole wieder zur Stadt zurück, ins Futteral des bürgerlichen Lebens.
Frauen !
Nach Jahrzehnten der Abwesenheit vom Marburger Institut erkennt Johanna dort mit freudigem Erschrecken den dortigen »Frauenschrank« wieder. In einem Aufsatz (Rolshoven 2010) verschafft sie ihm ein Stück Würdigung, denn er steht für den Anfang der Auseinandersetzung der Marburger Studentinnen mit Feminismus und Frauenforschung und zugleich für die Repräsentanz der »Frauenforschung in der Volkskunde« im ganz konkreten wissenschaftlichen Raum der Universität. Ein Schrank nimmt zugleich Raum ein (und weg) und öffnet sich exklusiv seinen Nutzerinnen. Außer Frage steht, dass für Johanna Frauenforschung damals, in den 1980er Jahren, niemals nur thematische Herangehensweise an ein Forschungsdesiderat (›Frauen in… ‹, ›Frauen und…‹) bedeutete, sondern eine grundlegende Forschungs- und Lebenshaltung war, Startblock für den Kampf um eigene Räume: All das verdichtete sich im Frauenschrank, der ganz selbstverständlich eine politische Dimension hatte. Kritisches Engagement, das selbstverständliche Mitdenken der Kategorie Geschlecht/Geschlechterverhältnis und die Bewegung zwischen den Disziplinen waren ihr (und ihren Mitstreiterinnen) von Anfang an zentral wichtig. Ganz in diesem Sinn und in dieser Form ist sie auch ihren Studentinnen und Kolleginnen begegnet, hat diese beeindruckt und beeinflusst, und hat ihnen vorgelebt und vorgedacht, was denkendes Reisen und reisendes Denken sein kann. Die Spuren, die von Johannas Arbeit, Lebenspraxis und Engagement zeugen, sind konsequent fluid, prozessual und performativ — immer wieder von Neuem erzeugt und gezogen.
Danke !
Danke, großen Dank aber allen Beiträgerinnen und Beiträgern, die das wertvollste, was sie haben, Lebenszeit in der Form von Zeit des Denkens und Gestaltens, gespendet haben — Zeit, die Kant (1798, §7) »blos als subjective Bedingung gilt«, die aber in einer radikalen Subjektivität in ein Gemeinschaftswerk im virtuellen Raum des World Wide Web geronnen ist.
Ohne Farhad Khaleghi hätten wir einmal daran gedacht, unser Vorhaben in der Gestalt der Website zu realisieren. Und ohne ihn wäre nichts gelaufen: Wir danken ihm, dessen Name sonst nirgends aufscheinen würde, ganz herzlich für seine Grosszügigkeit und für die Geduld mit dem Aufbau der Website.
Wie auf einem Gabentisch Geschenke sich in der Reihenfolge des Eintreffens der Gäste unabhängig von deren Körpergrösse oder Haarfarbe anhäufen oder auftürmen, erscheinen sie auf der Website. Die Beiträge wurden von uns Herausgeberinnen unter Respektierung der typografischen und orthografischen Eigenheiten der Autorinnen gesetzt. Einheitlich ist der MHRA Zitierstil, ansonsten enthielten wir uns der Vorspiegelung einer Ordnung, die den Anschein eines ordentlichen Lebens und einer zertifizierten Karriere erwecken könnte.
Quellen
Agamben, Giorgio. 2016. ‘Giorgio Agamben: «Credo nel legame tra filosofia e poesia. Ho sempre amato la verità e la parola” ’, in intervista di Antonio Gnoli con Giorgio Agamben, R.it 15.5. 2016.
Italo Calvino. 2007 (1972). Die unsichtbaren Städte, neu übersetzt von Burkhart Kroeber (München: Hanser); Le città invisibili (Torino: Einaudi).
Kant, Immanuel. 1798. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Königsberg ; Nicolovius), <https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/Kant/aa07/Inhalt7.html>
Rolshoven, Johanna. 2010. ‘Der Frauenschrank. Versuch über den Kaffeelöffel, in dem sich die Sonne spiegelt’, in: Ansichten, Einsichten, Absichten. Ein Souvenir aus der Marburger Kulturwissenschaft, herausgegeben von Antje van Elsbergen et al. (Marburg: Makufee), pp. 17-33.
Rolshoven, Johanna. 2018. ‘Strasse und Gesellschaft. Kulturanalytische Überlegungen über den Stadtraum in Bewegung’, in In Bewegung. Beiträge zur Dynamik von Städten, Gesellschaften und Strukturen, herausgegeben von Judith Fritz und Nino Tomaschek (Münster: Waxmann 2018), pp. 13-25.
de Certeau, Michel. 1990 (1980). L’Invention du quotidien, 1. Arts de faire et 2. Habiter, cuisiner, edition établie et présentée par Luce Giard (Paris: Gallimard).
1. Wir verwenden hier das generische Feminin, mit dem das männliche und alle weiteren Geschlechter und Gender mitbedeutet sind.