Franziska Hederer
»Eine Glückssträhne kündigt sich an.
Ihr Charme wirkt wahre Wunder.
Ihre Aura schwillt farbig an.
Die Sommermonate werden unvergesslich sein.«
Pipilotti Rist, Himalaya (1999)
Für die Schwellenspaziergängerin ist eine Reise immer ein Erforschen, ein Sammeln von Bildern, Ereignissen, Situationen und Erkenntnissen. Man sollte denken, das verstehe sich von selbst. Die Art der Fortbewegung aber ist eine Wesentliche: Es ist das Gehen im Wortsinne, das Gehen als raumbildende Handlung. Dieses erzählt nicht nur vom Gehen auf eigenen Füßen, sondern auch vom Sehen mit den eigenen Augen, vom Hören mit den eigenen Ohren und vom Fühlen mit der eigenen Haut. So taucht die Schwellenspaziergängerin unter die Oberfläche, auch dort, wo alles offen liegt. Sie lässt sich auf die komplexe erzählerische Vielfalt ihrer Umgebung ein. Sie erfasst alltägliche kulturelle Phänomene, indem sie sich dem Mainstream und dessen Tempo in den Weg stellt und sich der vorgegebenen Richtung entzieht. Sie bewegt sich im Rhythmus der Stadt, der Landschaft und des Tages und begibt sich auf Erkundungen ohne Gewähr. Mit traumwandlerischer Sicherheit bewegt sie sich in einer über alles hinwegströmende Stimmung, um auf Inneres aufmerksam zu machen.
So fragt die Schwellenspaziergängerin nicht nach dem Wohin, sondern interessiert sich für das Wo. In diesem Wo hat sie nicht allzu Bestimmtes vor. Sie lässt sich nicht einordnen in ein Muster, in eine Schablone oder in eine vorgezeichnete Form. Dennoch ist sie ausgestattet mit einer inneren Zugehörigkeit, die sie zu einem Teil dieses Wo macht. Sie ist eine Menschenfreundin ebenso wie eine Freundin der Stadt und ihrer Architektur. Sie sucht den Spielraum, in dem sie auf Unerwartetes trifft und der sie zur Interaktion herausfordert.
Die Schwellenspaziergängerin verwandelt daher das Wo, in dem sie sich befindet, zu dem Schwellenraum, den sie betritt und verlässt, indem sie verweilt, und der sich mitbewegt, wenn sie sich bewegt. In diesem Schwellenraum liegt das Unmögliche, das Unendliche, das Unerwartete, das Unsichtbare und das Unsagbare verborgen. Im Schwellenraum verlässt sie das gesicherte Terrain des Gewohnten und Gewöhnlichen, des Messbaren, des Kategorisierbaren und Bewertbaren. Sie begibt sich gewissermaßen ins Ungewöhnliche, in das, was ihr fremd ist. Gleichzeitig ist sie stets wach und geistesgegenwärtig bereit für das Neue und Unbekannte.
Schwellenräume sind offen für Verwandlungen. In ihnen finden Transformationen statt. Diese Räume ermöglichen erweiterte Nutzungen, über die vorgesehene Verwendung hinaus. Sie befinden sich in ständiger Veränderung; Die Räumlichkeit an sich entsteht durch Bewegung und Wahrnehmung der im Schwellenraum sich Befindenden.
Schwellenräume sind geprägt von einer eigenen Ordnung, die oft als Unordnung erfahren wird. Es sind Räume, in denen ständig unterschiedliche Nutzungen aufeinander prallen und die einer bestimmten Art der Verhandlung, der Aushandlung, bedürfen.
Der Schwellenraum ist eine Form von Intensität, ein Träger von Befindlichkeiten, von Eindrücken, Erinnerungen, Assoziationen, Reflexionen und nicht zuletzt Vorstellungen. Er hat keine definierten Grenzen. Er ist in seinem Wesen grenzenlos. Aus dem Involviertsein im Schwellenraum definiert die Schwellenspaziergängerin dessen Grenzen stets selbst, indem sie entscheidet, ob sie ihn verlässt oder nicht.
Auch die Zeit im Schwellenraum ist eine außergewöhnliche. Die Zeit, die den Schwellenraum definiert ist, die Gleichzeitigkeit. Das Bezeichnende an dieser Gleichzeitigkeit ist, dass sie nicht zweckgebunden ist, dass sie nicht einer vorgegebenen Linearität folgt, also ebenso wie der Raum richtungslos ist. Diese Zeit ist wie eine Masse, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander treffen. Es ist eine Zeit, in der sich Erinnerungen, Vorstellungen, Bilder und Gedanken wie Blitzlichter überschlagen, und sich zu neuen Welten, zu neuen Räumen formieren, die jenseits des Gewohnten und Gewöhnlichen liegen. Aus dieser Gleichzeitigkeit heraus ist die Schwellenspaziergängerin vielleicht ein Mythos vergangener Zeiten, die allerdings, verwickelt in Schwellengespräche, an der Gegenwart ansetzt und die Zukunft mitschwingen lässt. Mit jedem Schwellengespräch macht sie ein Stückchen mehr von unserem Leben begreiflich. Ereignisse und Stimmungen rund um ein Schwellengespräch wirken unmittelbar, wodurch der Verlauf des Gesprächs nicht vorhersehbar ist. Es entsteht ein assoziatives Zusammenspiel von Ereignissen, Gedanken, Erinnerungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen, die im Gespräch stattfinden oder wach gerufen werden. Die Schwellengespräche bewirken Minimalverschiebungen im bereits Bekannten und eröffnen dadurch neue Türen und Tore für ein Verständnis gegebener Schwellensituationen.
Einen Plan oder eine Landkarte für die Schwellenspaziergängerin gibt es eigentlich nicht. Einzig Variationen des Nolli-Plans würden ihre Wege skizzieren. Dieser 1748 von Giovanni Battista Nolli gezeichnete Plan von Rom zeigt, anders als der klassische Schwarzplan, der nur in bebaute und unbebaute Flächen unterscheidet, alle öffentlich zugänglichen Plätze, Gebäude, Höfe, Gassen, Stiegen und Straßen wie ein Labyrinth aus Neben- und Sackgassen, das lebendige Innenleben der Stadt. Es ist ein Plan des Dazwischens, ein Plan von Schwellen- und Übergangsräumen, ein Plan des verwirrenden Nebeneinanders von Gebäuden und Zeiten. Das Innen berührt das Außen und umgekehrt. Man befindet sich im Inneren der Stadt. Im Er-Innern gewissermaßen. Das könnte der Plan der Schwellenspaziergängerin sein, die involviert, beobachtend, durchdringend, mitunter bewundernd durch die Stadt streift. Distanzen, Nähe und Ferne ebenso wie räumliche Begrenzungen heben sich auf. Alles bezieht sich aufeinander und ist verbunden durch ein Netz von Durchblicken, Übergängen, Schwellen und Öffnungen. Die Wechselwirkung von Aussicht und Einsicht bestimmt wesentlich das Raumerlebnis.
So ist die Schwellenspaziergängerin gewissermaßen eine Zukunftsforscherin. Sie erforscht den Verlauf performativer Prozesse, die Zukünftiges hervorbringen und fragt vor allem nach der Art und Weise dieser Prozesse. Ihre Sprache dient der Vorstellung und dem, was sein könnte. Die Wahrnehmung des Gegenwärtigen verschiebt sie damit so minimal, dass das Zukünftige, das Mögliche zum Vorschein kommt.
»Es gibt für mich verschiedene Arten von Wolken.
Diejenigen, die ich gesehen habe, und diejenigen,
die ich mir vorgestellt habe,
solche, die ich mir vorstellte, die meisten
die ich nie gesehen habe oder
den größten Teil der Wolken, die andere gesehen oder
sich vorgestellt haben oder
sich je vorstellen werden. «
Pipilotti Rist, Himalaya (1999)
Literatur
Certeau, Michel de. 1988. Kunst des Handelns (Berlin: Merve).
Fischer-Lichte, Erika. 2012. Performativität; eine Einführung (Bielefeld: Transcript).
Rist, Pipilotti. 1999. Himalaya (Köln: Oktagon).
Rolshoven, Johanna. 2017. ‘Gehen in der Stadt’, in ›Gehen in der Stadt‹. Ein Lesebuch zur Poetik und Rhetorik des städtischen Gehens, herausgegeben von Justin Winkler (Weimar: Jonas), 95-111.
Schlögel, Karl. 2003. Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik (München/Wien: Carl Hanser).
Tice, Jim and Erik Steiner. 2005-2018. The Nolli Map Website (Eugene OR: University of Oregon) <http://nolli.uoregon.edu/>
Waldenfels, Bernhard. 2009. Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen: Modi leibhaftiger Erfahrung (Frankfurt am Main: Suhrkamp).