Karl Kaser
Die meisten Grazer Balkanforscher_innen nutzen die Balkanroute — Graz-Zagreb-Belgrad-Niš und dann weiter nach Saloniki oder Istanbul —, um zu den Orten ihrer Bibliotheken und Feldforschungen zu gelangen. Seit Jahrzehnten ist sie daher auch mein (geliebter) Hauptreiseweg — und wird es wohl auch bleiben, trotz aller politischer Versuche, sie im metaphorischen Sinn zu schließen. Dabei gab es bis zum Sommer 2015 in der Öffentlichkeit gar keine Balkanroute — und schon gar nicht eine, die wegen ihrer angeblich nicht korrekten Nutzung sofort wieder geschlossen werden müsste. Stand die erste Hälfte jenes Jahres noch im Zeichen der Eurokrise und insbesondere der Bemühungen um die Rettung Griechenlands vor dem Staatsschuldenkollaps, so rückte zu Beginn der zweiten Jahreshälfte immer mehr die rasch steigende Zahl von Menschen in den Vordergrund, die auf der Flucht vor Kriegen, Verfolgung, Hunger oder Diskriminierung im Nahen und Mittleren Osten nach Zentral- und Westeuropa zu gelangen trachtete. Vor allem aus Syrien, aber auch aus Afghanistan, aus dem Irak, dem Iran, aus Pakistan und aus verschiedenen afrikanischen Ländern erreichten täglich Tausende die Türkei, das krisengebeutelte Griechenland, aber auch Italien. Sie suchten dabei nicht mehr nur, wie Jahre zuvor, den gefährlichen Weg über das Mittelmeer, sondern benutzten nun hauptsächlich, von der Türkei und Griechenland ausgehend, den zur »Balkanroute« abgewerteten Verbindungskorridor, um nach Zentraleuropa zu gelangen. Der vielgeschundene Balkan hatte bereits einiges aushalten müssen, nun musste er auch noch mit einer allseits gescholtenen Route leben, die das Fremde nach Zentral- und Westeuropa kanalisierte!
Meine Gedanken möchte ich gerne in den Zusammenhang mit den von der Jubilarin zusammen mit Joachim Schlör in ihrem Beitrag »Erzwungene Bewegungen und neue Ankerplätze« (2017, 8) geäußerten »verstörenden und bereichernden Auswirkungen der großmaßstäblichen ebenso wie der individuellen Mobilitäten für eine sich transnationalisierende Kultur, für Akteure, Lebenswelten, Institutionen, Strukturen, Ideologien und Weltsichten« gestellt wissen.
»Balkanroute« — Krisen und Drogen
Wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Fach haben den Terminus Balkanroute in Wort und Schrift immer vermieden, weil er journalistisch verkürzend und abwertend verbreitet wird, negativ konnotiert und als Einbahnstraße Richtung Zentraleuropa gedacht wird. Die zwei über die Balkanhalbinsel führenden Hauptverkehrsverbindungen zwischen dem östlichen Mittelmeer und Zentraleuropa haben seit einigen tausend Jahren in Istanbul und Saloniki ihre Ausgangspunkte; sie laufen in der zentralserbischen Stadt Niš zusammen, um sich ab Belgrad in Richtung Budapest und Graz wieder aufzugabeln.
Die einflussreiche, weil massenwirksame Enzyklopädie Wikipedia definiert im ersten Satz ihres Eintrags »Balkanroute« diese folgendermaßen: »Als Balkanroute bezeichnet man zusammenfassend Routen zwischen dem Nahen Osten und Europa über den Balkan, wo Teile der EU-Außengrenze verlaufen. Man verwendet den Begriff im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise in Europa seit 2015 und mit Drogenschmuggel. In den ersten zehn Monaten des Jahres 2015 reisten laut EU-Kommission fast 700’000 Menschen auf der Balkanroute von Griechenland nach Zentraleuropa.« Demgemäß bestünden zwischen Balkanroute, Krisen und Drogen also recht klare Zusammenhänge.
Wer auch immer den Begriff von der »Balkanroute« geprägt hat — möglicherweise war es der damalige Außenminister und jetzige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, als er noch nicht so schweigsam war —, der oder die hat damit ungewollt Großes und gewollt Unerwünschtes geleistet. Das Große bestand darin, unbeabsichtigt auf diese ungeheuer wichtige und acht Jahrtausende alte Kulturachse hinzuweisen, die den ehemals blühenden Nahen Osten mit den damals noch vergleichsweise einfachen Lebens- und Wirtschaftsformen aufweisenden europäischen Kontinent verband. Ohne Austausch mit der frühen Hochkultur des Nahen Ostens, die den heutigen Irak, Anatolien sowie das heutige Syrien und Ägypten umfasste, wäre Europa nicht zu dem geworden, was es heute ist. Europa hat viele hunderte Jahre von Impulsen aus dem Nahen Osten gezehrt. Der Balkan mit seiner frühesten Hochkultur auf dem europäischen Kontinent vermittelte dessen Kenntnisse und Fertigkeiten weiter, noch bevor sich die antiken griechischen Stadtstaaten formierten.
Nach einigen tausend Jahren haben sich die Zeiten geändert, und nun steht es umgekehrt. Wo früher Reichtum konzentriert war, grassieren heute Armut, politische Willkür und nicht selten Krieg. Ob es gerechtfertigt ist, davor zu flüchten, soll hier nicht debattiert werden. Wo sich einst auf europäischem Boden breite Waldlandschaften erstreckten, herrschen nun Autobahnen, Frieden, Reichtum und ein Gefühl von Überlegenheit. Das Militär ist bereit, zum Schutz der Grenzen auszurücken, die von unbewaffneten Männern und Frauen, Kindern und Alten allein durch ihre große Zahl »bedroht« werden.
Das gewollt Unerwünschte des österreichischen Außenministers war, die Hauptverkehrsroute der Region zu ideologisieren und unter einem Begriff zusammenzufassen, der in der westlichen Welt großflächige Abwehrgefühle zu stimulieren vermag. Seit dieser Erfindung erstreckt sich zwischen den Regionen der Armen, Verfolgten und Zerrütteten und der Sicherheits- und Wohlstandszone EU unglücklicherweise die sogenannte Balkanroute. Der Balkan hat sich aus westlicher Sicht nicht nur jahrhundertelang »balkanisiert« und fragmentiert, jetzt ist seine Hauptverkehrsader zu Land auch noch zu einer Route der Krisen und Drogen degradiert worden.
Abseits der Balkanroute — durch die Schluchten des Balkans im Jahr 2018
Der Balkan erfährt in konservativen und rechten Medien über das Motto der Balkanroute seine Wiederauferstehung als Gefahrenzone und eine dementsprechende inhaltliche Ausschmückung. Eine der »Ausweichrouten« der doch nicht ganz geschlossenen Balkanroute führt über Bosnien-Herzegowina, wo muslimische Flüchtlinge auf muslimische Ansässige treffen. Dies wird nicht zum Anlass genommen, auf diesen Umstand einzugehen oder auf Sarajevo, wo die meisten MigrantInnen Station machen, hinzuweisen, sondern das Land zu stigmatisieren. Ende Mai 2018 titelte die Basler Zeitung: »Die neue Flüchtlingsroute führt durch bosnische Schluchten«. Und weiter: »Die Grenze [Bosniens] zu Serbien und Montenegro verläuft durch unwegsame Berglandschaften, tiefe Schluchten und teilweise wilde Flüsse wie Drina, Tara und Lim. Rafter sprechen von einem Teufelsritt auf der Tara, wenn sie sich in die Stromschnellen stürzen« (Robelli 2018).
Zwei Wochen später berichtet das (dubiose) virtuelle Watergate TV unter der Schlagzeile »Kroatien von Migranten gestürmt — Österreich muss jetzt Balkanroute verteidigen«, dass 80.000 Menschen auf der Balkanroute nach Deutschland unterwegs seien. Und weiter: »Nach Schätzungen sollen sich derzeit rund 80.000 Migranten auf den Weg nach Europa befinden. Über die neue Balkan-Route. Sicher ist, dass die meisten nach Deutschland wollen. Österreich und die Visegrád-Staaten hatten sich am vergangenen Donnerstag darauf verständigt, neue Routen über den Balkan ‚dicht zu machen‘. Jetzt wird sich zeigen, ob Österreich wie angekündigt den neuen Ansturm mit Militär abwehren kann.« (Watergate Redaktion 2018) Um die Manipulation abzurunden, wird kein aktuelles, sondern ein Foto aus dem Sommer 2015 gezeigt – allerdings nicht als solches datiert — gezeigt, mit Massen von flüchtenden Menschen.
Etwa zur selben Zeit berichtet Zeit Online unter der Schlagzeile »Balkanroute. Der neue, alte Weg« (Klingst 2018) erfrischend vorurteilsfrei, kann sich dennoch den Hinweis nicht verkneifen, dass sich die Zahl der registrierten »Flüchtlinge« im Vergleich zum Vorjahr verfünffacht habe, ohne allerdings deren Heimatländer anzugeben. Die Welt Online (Redaktion Welt 2018) berichtet am gleichen Tag sogar von einer Verzwölffachung der »Zahl der Flüchtlinge über neue Balkan-Route« (von 755 auf 4’373) unter Angabe ihrer Herkunft: »Ein Viertel der Flüchtlinge und Migranten in Bosnien seien Syrer, gefolgt von Pakistanern, Afghanen, Irakern und Libyern«. Die aufgestellte Rechnung ist zwar falsch (auch wenn sich die Zahl von 4’373 auf die Zeit von Anfang Jänner bis Ende Mai 2018 beziehen und auf das restliche Jahr weitergerechnet worden sein könnte), aber Hauptsache, sie erscheint hoch. Im Vergleich zu den oben kolportierten 80’000 ist sie jedoch alles andere als hoch.
Wohin geht die Reise? Publikationen über die »Balkanroute« lassen vermuten, dass sie ausschließlich dem Reiseverkehr von Süden nach Norden bzw. vom Südosten nach Nordwesten diene. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass ein und dieselbe Route seinerzeit als »Gastarbeiterstrecke« bezeichnet wurde, die in erster Linie von jugoslawischen und türkischen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen auf ihrem Weg von ihren Arbeitsplätzen in Deutschland und Österreich in ihre Heimat im Sommer üblicherweise zweimal jährlich befahren wurde — einmal runter und dann wieder rauf. Die Bezeichnung »Gastarbeiterstrecke« mutet im Vergleich zur »Balkanroute« geradezu freundlich an. Obwohl sie zu ihrer Zeit aufgrund der vielen Staus und Verkehrsunfälle auch kaum jemand liebte, so würde man sich ihre Bezeichnung als liberal denkender Mensch wieder zurückwünschen — gewiss nicht der Verkehrsstaus in Wildon oder Gratkorn wegen, sondern wegen der Hilfsbereitschaft, die den Durchreisenden von den Einheimischen entlang ihres Verlaufs entgegengebracht wurde.
Eigentlich waren diese Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen »Wirtschaftsflüchtlinge« auf der Suche nach einem besseren Leben — in viel größerem Ausmaß als Flüchtende, die heutzutage als solche denunziert werden. Natürlich gibt es weitere Unterschiede zu damals. Sie kamen damals (zumeist) in gesetzlich geregelten Bahnen, mussten sich nicht »integrieren« und auch die deutsche Sprache nicht »ordentlich« lernen, weil sie ja nur »Gast«arbeiter waren. Heutzutage sollen sie Deutsch bereits bei ihrer Ankunft auf einem Top Level beherrschen, nett sein, freundlich »Grüß Gott« sagen und, falls Zugehörigkeit zum Islam vorliegt, sich als christenfreundlich erweisen und österreichischen Frauen leutselig die Hand schütteln, auch wenn ihnen dies die Konventionen guten Benehmens bislang untersagt haben.
Liebe Johanna, es ist wirklich schwer vorherzusagen, wohin die Reise in diesem Wirrwarr von Balkan- und Ausweichrouten geht. Die vom österreichischen Bundeskanzler inspirierte Schließung der Balkanroute bedingt, dass wir uns im Moment nolens volens durch zivilisationsferne Schluchten schlagen müssten. Karl Mays Durch die Schluchten des Balkan (Neuauflage 2018) könnte uns dabei eine wichtige Orientierung sein. Unsere Universität unterstützt uns bei der Wahl der Reiseroute wie immer materiell und immateriell. Wir könnten auch auf die Mittelmeerroute ausweichen, heißt es. Wollen wir das? Gehören wir nicht stets zu jenen, die ihren eigenen Weg suchen, finden und gehen?
Quellen
Klingst Martin. 2018. ‘Balkanroute. Der neue, alte Weg’, Zeit online 23/2018, 30.5. 2018, https://www.zeit.de/2018/23/balkanroute-fluechtlinge-asyl-landweg-europa [2019-01-29]
May, Karl. 2018. In den Schluchten des Balkan (München: neobooks).
Robelli, Enver. 2018. ‘Die neue Flüchtlingsroute führt durch bosnische Schluchten’, Basler Zeitung 30.5.2018, https://bazonline.ch/ausland/europa/Die-neue-Fluechtlingsroute-fuehrt-durch-bosnische-Schluchten/story/19147629 [2019-01-29]
Rolshoven, Johanna und Joachim Schlör. 2017. ‘Erzwungene Bewegungen und neue Ankerplätze. Editorial’, Mobile Culture Studies. The Journal 2(2) 2017, Forced Mobilities, New Moorings, 7-10, http://unipub.uni-graz.at/mcsj/periodical/titleinfo/1679606 [2019-01-29]
Watergate Redaktion. 2018. ‘Kroatien von Migranten gestürmt – Österreich muss jetzt Balkanroute verteidigen ‘, Watergate TV Gesellschaft 25. 6. 2018, https://www.watergate.tv/kroatien-von-migranten-gestuermt-oesterreich-muss-jetzt-balkanroute-verteidigen [2019-01-29]
Welt Redaktion. 2018. ‘Zahl der Flüchtlinge über neue Balkan-Route verzwölffacht’, Die Welt Ausland 29.5. 2018, https://www.welt.de/politik/ausland/article176776475/Brennpunkt-der-Migration-Zahl-der-Fluechtlinge-ueber-neue- [2019-05-29]