Dieter Kramer
Heinz Maus hat 1946 eine neue »Volksforschung« vorgeschlagen, in deren Rahmen »manches im engeren Sinne volkskundliche Material, der genaueren Analyse unterzogen, unter neuem Aspekt auf eine besondere Weise zu funkeln beginnen oder auch verblassen« wird (Maus 1946, 357). Er will »endlich eine ernsthafte Volksforschung, die auch dann nicht museal verfährt, wenn sie sich um vergangene Zeiten und entlegene Zustände kümmert.« (S. 356) Denn »solcherart wissenschaftliche Bemühung dient der Erhellung unserer Kultur und vermag dazu beizutragen, die Lebensbedingungen durchsichtiger zu gestalten …« (S. 356) Aber, befürchtet er: »Statt Neubeginn scheint jedoch alles beim alten belassen« (S. 358) – ja es wurde noch schlimmer, denn mit Vertriebenenforschung und bewusster Abgrenzung zu der Volkskunde in der DDR verbunden war die partielle Indienstnahme für den Kalten Krieg (Braun 2015).
Lutz Röhrich hat mich 1961 ermutigt, dieses Fach zu studieren, als er noch Professor für Germanistik in Mainz war. Mir ist bei meiner Beschäftigung mit Volkskunde (der späteren Europäischen Ethnologie) schon früh klar, dass sie mit ihren Schätzen »funkeln« kann: Wenn es im Milieu meiner Eltern eine Großmutter gab, die nächtens noch dem Leibhaftigen begegnet ist, und wenn meine Mutter in einem Armeleute-Haus mit Flurküche und einem Kleinviehstall links davon groß geworden ist, deren Grundriss mir später in der Hausforschung begegnete (ich war noch oft genug Gast in diesem Haus, und noch in meinen Träumen begegnete es mir später), wenn Sagen- und Schwankmotive ebenso wie gewohnheitsmäßig gesungene sentimentale Lieder zum Alltag gehören, dann strahlt dies alles auch in ein unpathetisches Alltagsleben.
Zu verblassen begannen zu Recht, wie Maus 1946 meinte, die Forschungen in manchen Sackgassen der Volkskunde. Nur erwähnt werden müssen jene, die mit der Anknüpfung an die Unterscheidung von vulgus und populus von Hegel verbunden sind: Er unterscheidet vulgus als Bevölkerung im »Aggregat des Privaten« und »vorpolitischem Zustand« auf der einen, populus als Bevölkerung in der staatlichen Form auf der anderen Seite. Er meint als Vertreter der damaligen Vorstellungen von Aufklärung und Fortschritt, es sei der »alleinige Zweck des Staates, daß ein Volk nicht als solches Aggregat zur Existenz, zur Gewalt und Handlung komme. Solcher Zustand [des vulgus] eines Volkes ist der Zustand der Unrechtlichkeit, Unsittlichkeit, der Unvernunft überhaupt …« (Hegel 1979, § 544). Dabei berücksichtigt er nicht, dass in vormarktwirtschaftlichen Zeiten und vor dem »aufgeklärten Feudalismus« das vulgus (das »Volk«) auch immer in Gemeinschaften wie Dorfgemeinden, Städten, Zünften oder (Zwangs-)Korporationen und Gemeinnutzen eingeordnet ist. Keine dieser Gemeinschaften kommt auf Dauer ohne innere Organisation aus. Deshalb kann Augustinus sagen, das Einzige was den Staat von einer Räuberbande unterscheide, sei eine (in seinem Falle christliche) moralische Fundierung, nicht die bloße innere Ordnung.
Manche Volkskundler haben einst diese Unterscheidung von Hegel übernommen, »Volk« von den gebildeten »Eliten« unterschieden und dann behauptet: »Volk produziert nicht, reproduziert nur«. Das war eine Sackgasse und führte nicht weiter.
Von einer anderen Sackgasse, die verbunden ist mit einer unterstellten biologischen und genetischen Prägung von Kultur, lange Zeit Bestandteil der Stammes- und Nationalitätenforschung, sind Volkskundler schon lange abgekommen. Nur beim Volkskunde-Kongress in Halle zum Thema Natur—Kultur (1999; Brednich et al. 2001) haben sie sich am Rande noch einmal damit auseinandergesetzt. Auch das lenkt ab von den interessanteren Analysen von Kulturprozessen und ihren Komponenten.
Die »mythologische Schule«, die aus der populären Überlieferung Hinweise auf frühe, ja vorchristliche Traditionen finden und sie auflesen will wie die Splitter eines zerbrochenen Spiegels aus dem Gras, gehört ebenfalls zu den Sackgassen. Aber aus ihr sind große Dokumentationen entstanden wie die von Ingeborg Weber-Kellermann (1965) neu interpretierten Mannhardt-Fragebogen. Andere Sammlungen vermögen unter neuem Blickwinkel ebenfalls zu »funkeln« anfangen, ich denke nur an die Sagensammlung von Ignaz Vinzenz Zingerle (1859).
Aus der »Volkskunde« bekannte Mischungen von Mythos und Aufklärung üben manchmal eine eigenartige Faszination aus (und man mag sich dabei an die »Dialektik der Aufklärung« von Adorno und Horkheimer erinnert fühlen). Ein Beispiel möchte ich nennen: Der Südtiroler Josef Eberhöfer (*16. März 1786 in Martell, † 8. November 1864), 1812 in Brixen zum Priester geweiht, ist Frühmesser im Vinschgauer Martell-Tal (Südtirol) und hat eine Monographie dieses Tales geschrieben (Plant 1909, 52-54, s. auch Hoffmann 1886). Es stellt Berichte über Sagen und Bräuche neben rationales Denken und verbindet so Aufklärung und traditionelle Überlieferung. Der Brauch des Holepfannfeuers (Johler 2000), meint er, sei möglicherweise in der Pestzeit entstanden, als die Leute von entfernten Höfen signalisierten, dass noch welche am Leben sind. Und er geht ein auf die Überlieferungen zu geheimnisvollen fleißigen und bescheidenen Mägde, die wie anderswo (Haiding 1979) in manchen Erzählungen des Martelltales auftreten, ja auch geheiratet werden können. Man darf sie nicht nach ihren Namen fragen; für Eberhöfer sind sie vielleicht entlaufene Nonnen aus einem Kloster: Wenn eine zufällig vorbeikommende Fremde, die sie von früher her kennt, sie bei ihrem Namen nennt, verschwindet sie sofort.
Wenn Eberhöfer rationale Erklärungen versucht, bleibt solchen wundersamen und beeindruckenden Überlieferungen dennoch ihre Faszination — von der »Poesie« dieser Motive sprachen die frühen Sammler.
Nicht viel übrig hat Heinz Maus für »die stille Beschäftigung mit entschwindenden Bräuchen, die keinerlei Kraft zu einer sozialen Ordnung mehr besitzen, weil diese selbst längst zugrunde ging« (Maus 1946, 356). Aber auch da kann es »funkeln«, denn immer sie entwickeln unter anderen Bedingungen neue »Kraft«, wenn man einen Gedanken von Herfried Münkler (2002) ernst nimmt: Er schlägt in einem Beitrag zur Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« des Deutschen Bundestags (2003) vor, der Reproduktion soziomoralischer Ressourcen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Ohne soziomoralischer Ressourcen, so seine These, »würden auf Dauer auch die staatlich organisierten Formen kollektiver Risikoabsicherung und die Grundversorgung mit kollektiven Gütern erodieren und schließlich zerfallen.« (S. 17; s. auch Münkler 2002 und 2018): Er bezieht sich dabei auf die von Tönnies vorgenommene Unterscheidung von Gemeinschaft (als Beheimatung ermöglichende und die Individuen prägende Gesellungsform) und Gesellschaft (Freiräume und Freiheiten bietend), die von der Frankfurter Schule und allen in ihrem Geiste denkenden zur Kritik und Abwertung von Tönnies führte (s. Kramer 2013, 115, und Zimmermann 1992). Die Gesellschaft zeichnet sich für Münkler durch »Resilienz« als Chance der Anpassung an veränderte Bedingungen aus, während Gemeinschaft »Inseln der Geborgenheit« ermöglicht, wie sie von den Kritikern der »Gesellschaft« und den Anhängern populistischer Bewegungen gefordert werden. Aber solche »können durchaus auch moderne Gesellschaften bieten. Der Ort dafür ist die Zivilgesellschaft mit ihren auf Gemeinsinnbildung hin orientierten Vernetzungsmöglichkeiten, etwa in Vereinen und Verbänden. Sie bietet so Möglichkeiten der Entschleunigung und Vergemeinschaftung. Wenn solche Formen der Bildung von Gemeinsinn funktionieren, zeigen auch Umverteilungsmaßnahmen Wirkungen und tragen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Wo das nicht der Fall ist, werden wohlfahrtsstaatliche Umverteilungen notorisch mit dem Vorwurf konfrontiert, zu wenig und zu selten zu sein oder den falschen Gruppen zu dienen.« (Münkler 2002; s. auch Göttsch-Elten 2018; da niemand weiß, was eigentlich nach der »Spätmoderne« kommt, sollte man auf diese in diesem Aufsatz zitierte Vokabel lieber verzichten).
Man erinnert sich an einen Hinweis von Polanyi: »Brauch und Gesetz, Magie und Religion wirkten zusammen, um den einzelnen zu Verhaltensformen zu veranlassen, die letztlich seine Funktion innerhalb des Wirtschaftssystems sicherten.« (Polanyi 1978, 87) So wird auch die Beschäftigung mit »Brauchtum« ebenso wie die Laienkultur zum Akteur bei der Erzeugung »soziomoralischer Ressourcen«, mit denen die Gesellschaft zusammengehalten wird. Wenn Ulrike Kammerhofer-Aggermann vom Salzburger Landesinstitut für Volkskunde und Lucia Luidold vom Referat Salzburger Volkskultur (Luidold & Kammerhofer 2002-2005) sich mit Bräuchen im Salzburger Land in Vergangenheit und Gegenwart beschäftigen und dabei auch die heutigen Migrantenkulturen berücksichtigen, dann wird diese Dimension erkennbar.
Zur »Erhellung unserer Kultur« (Maus 1946, 356) und dazu, die Lebensbedingungen durchsichtiger zu gestalten helfen uns die historisch-archivalischen Forschungen von Karl-Sigismund Kramer, Oskar Moser und anderen, ebenso der empirisch und historisch gestützte Funktionalismus von Richard Weiss wie die Feldforschungen zum Gemeinwerk von Arnold Niederer oder zu den kulturellen Folgen des Strukturwandels von Rudolf Braun (bei denen man an Edward P. Thompson 1980 und Michael Vester 1970 denken muss). Die genannten Forschungen konnte Maus zur Zeit der Abfassung seines Beitrages noch nicht kennen. Rudolf Braun selbst hat Richard Weiss kritisiert, weil er an der Volkskunde festhielt, aber vielleicht hätte er das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wenn er es nicht getan hätte.
Hinzuweisen ist auf jeden Fall auf das, was Günter Wiegelmann erschlossen hat. Geprägt von der Kulturraumforschung in Bonn hat er — zu wenig beachtet — vorgeschlagen, die Europäische Ethnologie als eine auf Kulturprozesse ausgerichtete Wissenschaft zu verstehen (Wiegelmann 1995). Mit der aus der amerikanischen Agrarsoziologie stammenden regional differenzierenden Innovationsforschung, ferner mit der skandinavischen »Volkslebensforschung« von Sigurd Erixon und Sigfrid Svensson und den Diskussionen dazu hat Wiegelmann Innovationen verstanden als »Bündelungen von kulturellen Prozessen«. Bei ihnen können auch »Objektivationen als Indikatoren einbezogen werden« (Svensson 1972, 64). S. Helmut P. Fielhauer (1987) hat vorbildlich Veränderungen der »Volkskultur« (des Alltagslebens), wie sie sonst gern beschaulich beobachtet werden, und technische oder soziale Wandlungen zueinander in Beziehung gesetzt. Ein »vielschichtiges Ineinander verschiedener kultureller Prozesse« ist für Wiegelmann (1995, 48) entscheidend. Das ist viel später auch für Andreas Reckwitz (2017) wichtig, freilich ohne die deutliche Bindung an materielle Prozesse, die Wiegelmann berücksichtigt: Er sieht die »Prägungen der Kultur […] im Geflecht der historischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen« (Wiegelmann 1995, 209). Wichtig ist es ihm, die Triebkräfte, »die Ursachen zu erkennen und möglichst regelhafte Zusammenhänge zwischen den Konstellationen der Ursachen und dem kulturellen Verhalten zu ermitteln« (Kramer 1993, 147) Gefragt wird nach den Einzelheiten und Belegen, wenn es um den Zusammenhang der »Häufung von Innovationen bei rasch steigendem Wohlstand« oder dem umgekehrten Zusammenhang bei »Kulturfixierung« geht: Bei ihr wird nicht gleichmäßig gespart, sondern symbolisch wichtige Elemente werden beibehalten.
Mit seinen Thesen über den Zusammenhang zwischen Wirtschaftslagen und kulturellem Verhalten hat Wiegelmann (1995, 97) so dazu beigetragen, kulturelle Abläufe konsequent historisch und prozessual zu verstehen. Damit steht er in der Tradition von Franz Steinbach (1962/1926) und der »Kulturraumforschung«, mit der die Ideologeme von »stammhaften« oder »völkischen« Wesenheiten widerlegt werden, weil Herrschaft, Verkehr und Ökonomie als prägende Elemente gewürdigt werden.
Wiegelmann meint: »Über die Vermittler zwischen bürgerlicher und ländlicher Kultur gibt es bisher nur allgemeine Vorstellungen und Hypothesen. Welche Funktionen hatten Geistliche, Lehrer, Kaufleute und andere Dorfhonoratioren. Welche die durch ihre gewerbliche Tätigkeit der städtischen Kultur gegenüber offenen Personen wie Handwerker, Arbeiterbauern und Wanderhändler? Ebenso ist die Frage nach der Vermittlerrolle von Klöstern und ländlichen Adelssitzen noch kaum geklärt.« (Wiegelmann 1995, 143) Schon die Aufzählung lässt erkennen, dass dafür verallgemeinernde Aussagen kaum zu treffen sind, ebenso wie für die Frage nach regionaler (S. 173) und konfessioneller Differenzierung (S. 175), wie sie der Kulturraumforschung im Zusammenhang mit dem Atlas der deutschen Volkskunde und anderen Atlasprojekten wichtig wurde. Was damals »Diffusionforschung« mit einem Interessenkreis ähnlich dem der späteren Marktforschung war, ist inzwischen mit der Frage zur Bedeutung sozialkulturelle Faktoren für die Kohäsion der Gesellschaft zum Thema geworden (Kramer [2019], in Arbeit).
Es fällt auf, dass nicht gefragt wird nach der Bedeutung von Diffusion und Innovation für die größeren Einheiten von Gesellschaft und Staat, weder unter politiktheoretischen Gesichtspunkten (wie konstituiert sich der Zusammenhang zu größeren Einheiten?) noch zu praktischen politischen Fragestellungen (wie lässt sich das Auseinanderdriften von Milieu vermeiden bzw. wie entsteht es?).
E.P. Thompson fragt ähnlich nach der Komplexität des strukturierten Zusammenhangs der realen Lebenspraxis: Wichtig ist, »wie Männer und Frauen ihre Produktionsverhältnisse leben, wie sie ihre festgelegte Position innerhalb des Ensembles der sozialen Beziehungen mit ihrer ererbten Kultur und ihren ererbten Erwartungen erfahren, und wie sie diese Erfahrungen kulturell verarbeiten« (Thompson 1980, 268). Sie sind nicht hilflos den Strukturen ausgeliefert, sondern gestalten sie aktiv mit. Auch die »überlieferten Ordnungen«, von denen Leopold Schmidt spricht, sind historisch zustande gekommen. Die Europäische Ethnologie erinnert (wie die kulturwissenschaftliche Forschung) an die konkreten Zusammenhänge und Prozesse, mit denen auf allen sozialen Ebenen erkennbar ist, dass »Kultur« auch darüber entscheidet, »wie wir leben wollen«.
Die historisch-archivalischen Forschungen von Karl-Sigismund Kramer und Oskar Moser, der empirisch und historisch gestützte Funktionalismus von Richard Weiss ebenso wie Arnold Niederer und Rudolf Braun haben Wege beschritten, die parallel auch von Günter Wiegelmann begangen wurden.
Geprägt von dieser Kulturraumforschung in Bonn hat Wiegelmann vorgeschlagen, die Europäische Ethnologie als eine auf Kulturprozesse ausgerichtete und spezialisierte Wissenschaft zu verstehen. Bei solchen Forschungen können auch Objektivationen als Indikatoren einbezogen werden können (Wiegelmann 1995, 64). Ähnlich hat Helmut Fielhauer (1987) vorbildlich Veränderungen der »Volkskultur« (des Alltagslebens) und technische oder soziale Wandlungen zueinander in Beziehung gesetzt. Eindrucksvoll zeigt auch Gudrun M. König, welche sozialkulturellen Innovationen mit dem Stacheldraht in der Kulturgeschichte verbunden sind: Ohne ihn wären die Weiten der nordamerikanischen Prärien nicht so einfach und schnell zu erschließen gewesen – mit allen Konsequenzen (König 2008).
Die Europäische Ethnologie bemüht sich dank der von der Ethnologie inspirierten Feldforschung genau auf Kulturprozesse zu schauen. Eine besondere Rolle spielen die cultural studies als Methode, bei der ähnlich wie bei der älteren Feldforschung der Völkerkunde die handelnden Subjekte im Vordergrund stehen. Die Forscher stehen dabei den Menschen in der Regel in der Rolle von »Partnern, Sympathisanten oder Lernenden« mit »ethnologischem Respekt« und mit der Akzeptanz des »Eigensinns« der anderen Kultur gegenüber (Warneken 2006, 10).
Auf ähnliche Weise versucht die Soziologin Arlie Russell Hochschild zu begreifen, weshalb Menschen in einer Region der USA, die von Umweltschäden besonders betroffen ist (Louisiana), dennoch politische Repräsentanten wählen, die für diese Schäden verantwortlich sind (Hochschild 2017). Sie versucht den Menschen auf der anderen Seite mit Empathie entgegenzutreten und die »Empathiemauer« (S. 20) zu überwinden. »Wir begnügen uns damit, unsere Gegenspieler von außen zu kennen. Aber ist es auch möglich, ohne ein Abrücken von den eigenen Überzeugungen andere von innen kennenzulernen, die Wirklichkeit mit ihren Augen zu sehen, die Verknüpfungen zwischen Lebensverhältnissen, Einstellungen und Politik zu verstehen, also die Empathiemauer zu überwinden?« (S. 20) Sie versucht es, und erkennt: Für Arbeitsplätze nimmt man Umweltschäden und Krankheitsrisiken in Kauf. Wenn auf der Schlange des Weges zu dem verheißenen amerikanischen Fortschritt sich Migranten und andere vordrängen, dann wird das als ungerecht empfunden. Die religiöse Verheißung, egal welcher Kirche man angehört, sorgt für ausgleichende Gerechtigkeit. Das sind die verbreiteten Vorstellungen der von Hochschild interviewten Personen. Die »Empathiemauer« immer erneut überquerend, erkundet sie diese Vorstellungen und hofft, die gewachsene Spaltung der Gesellschaft könne verringert werden, wenn man sich aufeinander einlässt. Trotz der religiösen Bindung der meisten (die Bibel rechtfertigt alles) will man sich von niemandem vorschreiben lassen, für wen oder was man sich engagieren soll. Indem man sich von der »Political Correctness« und der »Mitleidsverpflichtung« (S. 305) entfernt, schafft man einen gemeinsamen Feind (S. 304) und erlebt z. B. bei Kundgebung mit Donald Trump »berauschende Befreiung von dem Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein.« (S. 306) Hochschild erinnert dazu an den Ethnologen Emile Durkheim (Anm. S. 402). Er hilft mit seinem Buch über »Die elementaren Formen des religiösen Lebens« (Durkheim 2007) die »kollektive Wallung«, den »Überschwang« (S. 301) zu begreifen, die man beim Zusammentreffen mit Menschen gleicher Überzeugung empfindet (die Massenpsychologie will dies viel brutaler durch die »Verführung« des Charismatikers erklären). Beachtenswert ist, dass es auch in diesem Milieu jüngere Menschen gibt, die anders denken.
Solche Studien wünscht man sich auch von der Europäischen Ethnologie. Dann beginnt ihre Arbeit mit der von ihr praktizierten Feldforschung in der Gegenwart zu »funkeln«.
Nachdenkenswert und wenig behandelt in der Europäische Ethnologie bleibt eine Frage von Maus: »Mögen wir stolz auf die Spitzenleistungen in Kunst, Literatur und Wissenschaft sein – wen haben sie jeweils erreicht, wem kamen sie zugute?« (Maus 1946, 358) Interessant wäre z. B. die Analyse eines Bändchens des Schweizer »Bauernschriftstellers« Ulrich Bräker von 1780 zu Shakespeare (Bräker 1964). Aber die Bedeutung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Milieus für den Zusammenhalt der Gesellschaft ist ein anderes Thema (s. demnächst Kramer [2019]).
Heinz Maus war Soziologe, kein Kulturwissenschaftler. Erst Andreas Reckwitz (2017) kann in jüngerer Zeit eine Kulturwissenschaft entwickeln, die sich durch die Soziologie hindurchgearbeitet hat. Und mit einer stärkeren Orientierung auf Kulturprozesse fangen noch mehr Traditionsbestände der Volkskunde zu »funkeln« an.
Literatur
Bräker, Ulrich. 1964 (1780). Etwas über William Shakespeares Schauspiele, von einem armen ungelehrten weltbürger, der das glück genoß, denselben zu lesen. Anno 1780 (Leipzig: Insel Bücherei Nr. 435).
Braun, Karl. 2015. ‘Stand und Aufgabe der Volkskunde in der sowjetischen Besatzungszone«. Gerhard Heilfurths Expertise zur DDR-Volkskunde für das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen 1957’, in Zur Situation der Volkskunde. Orientierungen einer Wissenschaft zur Zeit des Kalten Krieges, herausgegeben von Johannes Moser, Irene Götz und Moritz Ege. Münchener Beiträge zur Volkskunde 43 (Münster: Waxmann 2015), S. 139-156.
Durkheim, Émile. 2007 (1912). Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Aus dem Franz. von Ludwig Schmidts (Frankfurt am Main/Leipzig: Verlasg der Weltreligionen).
Brednich, Rolf W., Annette Schneider und Ute Werner (Hrsg.). 2001. Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt, 32. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Halle vom 27.9. bis 1.10.1999 (Münster: Waxmann).
Eskeröd, Albert. 1961. ‘Soziale Organisation’, in Schwedische Volkskunde. Quellen, Forschung, Ergebnisse, Festschrift für Sigfrid Svensson zum 60. Geburtstag am 1. Juni 1961, herausgegeben von Gösta Berg u.a., ins Deutsche übertragen von Christiane Boehncke-Sjöberg (Almqvist & Wiksell), S. 153-179.
Fielhauer, Helmut Paul. 1987. Volkskunde als demokratische Kulturgeschichtsschreibung. Ausgewählte Aufsätze aus zwei Jahrzehnten, herausgegeben von Olaf Bockhorn. Beiträge zur Volkskunde und Kulturanalyse 1 (Wien: Selbstverlag des Instituts für Europäische Ethnologie).
Göttsch-Elten, Silke. 2018. ‘“Der Bauernhof ist der ideale Ort, um Menschen emotional zu berühren”… Vermarktungsstrategien von Ländlichkeit in der Spätmoderne’, Kieler Blätter zur Volkskunde 50/2018, S. 5-16.
Haiding Karl. 1979. ‘Sagen von den Wildleuten’, Österreichischer Volkskundeatlas Bd. VIII, 6. Lief., 2. Teil, Bl. 115.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1979 (1830). Werke. 8. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Teil 1, Die Wissenschaft der Logik. Werke. Sammlung in 20 Bänden Theorie-Werkausgabe (Frankfurt am Main: Suhrkamp).
Hochschild, Arlie Russell. 2017. Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten (Frankfurt am Main/New York: Campus).
Hoffmann, F. L. 1886. Das Frühmesserbuch von Martell, Zeitschrift des deutschen und österreichischen Alpenvereins 17, S. 188-203.
Johler, Reinhard. 2000. Die Formierung eines Brauches. Der Funken- und Holepfannsonntag. Studien aus Vorarlberg, Liechtenstein, Tirol, Südtirol und dem Trentino. Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien 19 (Wien: Selbstverlag des Instituts für Europäische Ethnologie).
König, René. 2008. Schriften zur Kultur- und Sozialanthropologie. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Dieter Fröhlich (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften).
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Zingerle, Ignaz Vinzenz. 1859. Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol. Gesammelt und herausgegeben von – (Innsbruck: Wagnersche Buchhandlung).