Astrid Kury
Liebe Johanna, ich möchte dir etwas aus meinem Nachdenken über die Liebe schenken.
Beziehungen, das habe ich mir immer schon so gedacht, sind gemeinsame Innenleben. Jedes Gespräch, jeder Streit, jede körperliche Nähe sind wie die Wassertropfen, deren Mineralien sich außerhalb unserer Zeitwahrnehmung in feinsten Schichten übereinander legen. Nach vielen gemeinsamen Jahren durchwachsen spektakuläre Kristalle diesen verborgenen geteilten Raum. Ich war letztes Jahr in Nordspanien in so einem kristallvollen Berginneren, einer steinzeitlichen Kathedrale mit einer unglaublichen Akustik, eng verwinkelten Wegen, hoch auf- und herabragenden Formationen, reich gestuft und dicht gefaltet wie Darmzotten. Steinzeitliche Höhlenmalereien waren auch dort: mysteriöse rote Punkte, rote Hände, rote Gittermuster, wie ein Puls der ewigen Dauer. Auch Tiere mit glänzenden Kohleaugen waren da, ihre Körper bewegten sich im Schattenspiel der Lampe.
Die Liebe ist etwas, das wächst. Es beginnt mit einem kleinen Stern, sein flockenhaftes Niederschwanken zum Herzen hin nimmt man noch nicht ernst. So ist die Liebe eine Kraft, die sich jeder Selbstwahl widersetzt, jeder vernünftigen Einsicht entgegenstellt. Selten erlebt sich das in die Welt Geworfensein so klar. Es scheint, als würde auch die Liebe geworfen; nun bin ich von der Liebe getroffen, und es ist tut nicht viel, ob ich dazu noch ja oder nein sage. Was wir lieben und was wir nicht lieben, liegt nicht in unserer Hand.
Harry G. Frankfurt sagt in Gründe der Liebe: »Wir können nicht darüber verfügen, dass die Richtung unserer praktischen Vernunft tatsächlich durch die letzten Zwecke bestimmt wird, die unsere Liebe für uns definiert.«
Aus dieser Unausweichlichkeit entsteht auch Schmerz. Man ihm kaum entgehen. Die Vernunft liefert den klaren Blick, aber keine Abhilfe. Wie wäre das, würde man die psychischen Verletzungen wie physische sehen? Die Zahl der Wunden wäre unermesslich. Seelenprellungen, violettblaugrüne Flecken, die manchmal so lange so verdammt weh tun, dass man das Gedächtnis verlieren kann. Andere bluten frisch aus den unmöglichsten Stellen, in Schwüngen treibt es das Blut heraus. Und andere wieder, so wie ich damals auch, tragen einen Wundanzug. Das war ein silberner Catsuit mit einem Zipp, den ich über meine Wunde geschlossen hatte. Die saß um Herz und Sonnengeflecht und blutete heftig, aber so konnte es keiner sehen, und ich auch nicht. Und irgendwann war dann da eine dunkle kristalline Kruste, die ließ sich abheben, und darunter war eine grob verheilte Wunde, über die sich notdürftig eine dünne Haut ohne jede Elastizität spannte. Hauptsache zu.
Die Liebe ist heute auch: eine Freizeitunterhaltung. Ein soziales Kapital. Ein Markt der besseren und schlechteren Partner, wo Menschen sich als Marktsubjekte organisieren und anpreisen, um dann knallhart die Angetesteten ebenfalls zum Objekt zu degradieren. Die Liebe muss jedenfalls die große sein, aber sie soll nur Wohlbefinden verschaffen, und sicher keinen Schmerz. »Die Liebe wird heute zu einer Genussformel positiviert«, sagt Byung Chul Han in Agonie des Eros. Schon in Liebe zu fallen, ist bedrohlich. Denn funktionieren, das geht dann nur mehr eingeschränkt. Das Andere wird zur Quelle der Negativität, davor schiebt sich zur Sicherheit ein hedonistisches Kalkül.
Zadie Smith schreibt in Sinneswechsel, »dass die Wahl eines Partners, die Entscheidung für den einen und gegen den andern Mann (oder für die eine und gegen die andere Frau), weit über das rein Romantische hinausgeht. Letztendlich ist es eine Wahl zwischen Werten, Möglichkeiten, Zukunftsvorstellungen, Hoffnungen, Argumenten (gemeinsamen Konzepten, die dem entsprechen, wie man die Welt erlebt), Sprachen (gemeinsamen Worten, die dem entsprechen, wie man die Welt sieht) und Leben.«
Die Welt, die man mit dem einem teilt, ist offenkundig nicht die gleiche, die man mit einem anderen teilen würde. Man denkt selbst nicht einmal gleich, in diesen beiden getrennten Welten: Ein Geist, der mit dem einen gefangen war, ist mit dem anderen plötzlich frei, sagt sie. Ein anderes mögliches Spektrum der Persönlichkeit, das durch die Resonanz Raum bekommt. Roland Barthes umkreist in Fragmente einer Sprache der Liebe – einem Buch, das sich nur den Unglücklichen erschließt – das grundlegende Rätsel des entscheidenden Zufalls: »Ich begegne in meinem Leben Millionen von Leibern; von diesen Millionen kann ich nur einige Hundert begehren; von diesen Hunderten aber liebe ich nur einen. Der Andere, dem meine Liebe gilt, bezeichnet mir die Besonderheit meines Verlangens.«
Jetzt geht es nicht um solch singuläre Ein- und Umbrüche der Liebe, völlig out of date, sondern um die Kapitalisierung von sexyness, sagt Eva Illouz. Mit Mühe habe ich dieses deprimierende Buch fertig gelesen, das entlarvt, wie die patriarchale Ordnung in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Konzeption von Liebe und ihrer Bewirtschaftung festgeschrieben ist. Und ich weiß jetzt, Warum Liebe weh tut. Ein Versprechen in die Zukunft wie die Liebe, so Illouz, sei angesichts der steten Optimierung des Selbst eine lächerliche Selbstüberschätzung. Denn das Schwierigste angesichts der Selbstverwirklichung sei es, dass einem stets das Leben vor Augen stehe, das man nicht geführt habe, das Potential, das man nicht genützt habe. Da sei es am besten, sich stets alles offen zu halten.
Wer sich sein Leben lang aber nur damit beschäftigt, seine Möglichkeiten zu recherchieren, verliert doch zugleich die Zeit dafür, das zu vertiefen, was schon da ist? Ich finde: Die Liebe stiftet Sinn. Die Liebe macht klüger. Die Liebe ist das beste Beispiel für Resonanz. Die Liebe schmerzt. Die Liebe ist großartig. Die Liebe ist unverzichtbar. Die Liebe ist heute eine Gegenutopie. Sie ist die unauslöschbare Hoffnung. Sie ist das Vertrauen in die Zukunft. Man liebt um der Liebe willen. Die Liebe ist um ihrer selbst. »Die Liebe ist der Ursprung äußerster Werte.« (Harry Frankfurt)
Am Grinzinger Friedhof liegt ein Paul Wittgenstein mit der Schwester seiner Frau im Grab, sagt mir Josef Haslinger, der all die Geschichten dort kennt. Terminus vitae sed non amoris. Zuletzt erfüllt sich diese Liebe im Tod. Das Grab ein veritables Bett. Der Grabstein das Betthaupt. Davor eine weiche grüne Efeudecke.
Wo liegt denn seine Frau begraben? Was für ein atomarer Schmerz hat hier gewütet? Das Verständnis dafür scheint nur mehr in der Kunst geborgen. Es ist all das, was man noch ahnungslos vielleicht als gefühlsüberschwänglich und übertrieben abtun würde.
Ja, keiner sollte sich große Gefühle wünschen. Denn sie sind jeder Vorstellung von Freiheit, von Verstand und Vernunft, von freier Wahl entgegengesetzt.
Und doch. Was wäre ein Leben ohne Schmerz. Wohin würden wir bewegt, ohne die Liebe.
Literatur
Harry G. Frankfurt, Gründe der Liebe (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005), S. 55, 63.
Byung Chul Han, Agonie des Eros (Berlin: Matthes & Seitz, 2012), S. 35.
Zadie Smith, Sinneswechsel. Gelegenheitsessays (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2015), S. 18f.
Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2015), S. 00.
Eva Illouz, Warum Liebe weh tut (Berlin: Suhrkamp, 2011).