Gerald Lamprecht
»Das Fotoalbum einer Familie bezieht sich im allgemeinen auf die Familie
im weiteren Sinne —und häufig alles, was davon übriggeblieben ist.
Wie Fotografien dem Menschen den imaginären Besitz einer Vergangenheit
vermitteln, die unwirklich ist, so helfen sie ihm auch, Besitz von einer Umwelt
zu ergreifen, in der er sich unsicher fühlt.«
(Sontag, Über Fotografie, 15.)
Die historische Literatur zur Verfolgung der jüdischen Bevölkerung Österreichs ab dem März 1938 erzählt den Lesenden mit Verweis auf den Anschlusspogrom in Wien zumeist eine Geschichte der ungeheuren Brutalität der österreichischen Nationalsozialisten gegenüber den Jüdinnen und Juden. Weiters hebt sie die Geschwindigkeit hervor, in der die österreichischen Nazis all jene Diskriminierungs- und Verfolgungsmaßnahmen, die in Deutschland über einen Zeitraum von mehreren Jahren ab 1933 umgesetzt wurden, in nur wenigen Wochen und Monaten vollzogen — um letztlich so weit darüber hinauszugehen, dass selbst die nationalsozialistischen Eliten in Wien und Berlin unter Zugzwang kamen und den Furor der »Volksgenossinnen und Volksgenossen« in »geordnete« Bahnen zu lenken versuchten. Das in diesen Monaten des Jahres 1938 entwickelte »Wiener Modell« (Aly & Heim 2013, 30–38.), der gleichsam fordistische, bürokratische Prozess der Diskriminierung, Erniedrigung, Entrechtung, Beraubung und Vertreibung, resultierte aus der spezifischen Konstellation eines österreichischen Antisemitismus, verbunden mit der Brutalität nationalsozialistischer Eliten, menschlicher Niedertracht und bürokratischer Akribie. Es war Teil jenes Prozesses, den Marion Kaplan für die Situation in Deutschland als die Herbeiführung des »sozialen Todes« der jüdischen Bevölkerung in der Gesellschaft beschrieben hat. In Anlehnung an den Soziologen Orlando Patterson, der sich mit der Sklaverei befasste, bedeutet »sozialer Tod« das Erlangen der völligen Herrschaft über die Person sowie den Ausschluss dieser aus der »sozialen oder moralischen Gemeinschaft«. (Kaplan 2003, 13–14.).
Dieses Narrativ stützt sich vor allem auf Dokumente und historische Quellen, die die Nazi-Täter hinterließen, und es beschreibt einen Prozess der stetig verkleinerten Räume und Lebensmöglichkeiten der jüdischen Bevölkerung. Es weist den von den Verfolgungsmaßnahmen betroffenen Jüdinnen und Juden in dieser Geschichte eine weitgehend passive Rolle zu, wonach die Jüdinnen und Juden nicht nur ihr Hab und Gut sowie ihre Heimat verlieren, sondern auch keine Agency mehr haben: Sie sind nicht länger aktive Gestalter ihres Lebens, sondern passiv Getriebene des nationalsozialistischen Machtapparates und seiner Vollstrecker.
Gegen dieses Narrativ hat sich unter anderen Saul Friedländer mit der Forderung nach einer »integrierten Geschichte« des Holocaust gestellt, indem er die Forderung erhob, dass man auch den Erzählungen der Opfer in der Geschichte des Holocaust eine Stimme geben und Jüdinnen und Juden trotz der Repressions-und Verfolgungsmaßnahmen als aktiv Handelnde betrachten solle. (Friedländer, 2007.) Eine Forderung, die Historikerinnen und Historiker vor die Herausforderung stellt, ihren Analysen abseits der NS-Quellen auch Ego-Dokumente von Jüdinnen und Juden zu Grunde zu legen und die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Perspektiven miteinander in Beziehung zu setzen. Diese Zugangsweise erfordert auch, den Blick zu weiten und über die unmittelbaren Verfolgungsmaßnahmen hinaus die Alltagswelt der Verfolgten in den Fokus zu nehmen. Wie reagierten die Menschen auf die Verfolgungsmaßnahmen und wie gestaltete sich weiterhin ihr Lebensalltag? Welche Möglichkeiten hatten sie trotz der sich verschärfenden Repressionen und der zunehmenden Gewalt ihr Leben aktiv zu gestalten? Wo verbrachten sie ihre Freizeit? Mit wem trafen sie sich?
Bei der Beantwortung dieser Fragen stützen sich Arbeiten zur Geschichte der Verfolgung der österreichischen Jüdinnen und Juden zumeist auf schriftliche Quellen, also Archivalien oder lebensgeschichtliche Erzählungen. (Hecht et al. 2015) Nur wenig Berücksichtigung finden bildliche Quellen, wie beispielsweise Fotoalben der verfolgten Jüdinnen und Juden. Ofer Ashkenazi, der sich in seiner jüngsten Arbeit mit jüdischer Amateurfotografie in Deutschland zwischen 1933 und 1939 befasst, konstatiert, dass es viele dieser Fotoalben gebe, diese jedoch bislang nur wenig systematisch untersucht wurden. (Ashkenazi 2019.) Ein Befund, den man sicherlich auch für die österreichische Situation teilen kann.
Eine Bildgeschichte: die Familien Neufeld
Durch einen glücklichen Umstand habe ich Zugang zu vier solcher privater Familienalben ebenso wie zu handschriftlichen Memoiren die Jahre 1938 und 1939 betreffend erhalten. Diese Egodokumente ebenso wie umfangreiche archivalische Quellen, die sich im Steiermärkischen Landesarchiv befinden, dokumentieren das Leben der jüdischen Familie Neufeld aus Straßgang bei Graz von den 1870er Jahren bis in die 1970er Jahre. (Lamprecht 2016) Sie erzählen eine Geschichte des sozialen Aufstiegs ebenso wie des Wegs in das Exil nach England im Jahr 1939 und die Rückkehr von Teilen der Familie nach Straßgang ab 1946. Drei dieser Alben enthalten auch Bilder der Jahre 1938 und 1939 und damit der Geschichte der Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Diese drei Alben stammen aus dem Besitz von Vera Neufeld. Ein weiteres Album wurde von ihrem Bruder Karl (Charlie) Neufeld zusammengestellt. Die Fotos sind in die Alben eingeklebt und zum Teil einzeln, zumeist jedoch seitenweise beschriftet. Der Betrachter erfährt somit zum einen, worum und um wen es sich bei den Fotografien handelt, zum anderen wird eine Bildgeschichte erzählt. Die Alben erzählen entlang der Lebenschronologie eine mit Sinn versehene Familiengeschichte.
Wer sind die Protagonisten dieser Geschichte? Im Zentrum steht der Vater von Vera und Charlie, Carl Neufeld. Er wurde am 3. November 1888 in Semriach bei Graz geboren. Nach dem Schulbesuch in Semriach absolvierte er eine Kaufmannslehre bei seinem Onkel Leopold Neufeld in Peggau, ehe er nach Jahren der Berufstätigkeit als Handelsangestellter in Köflach 1913 in Straßgang im Süden von Graz ein Gemischtwarengeschäft eröffnete. Zwischen 1909 und 1912 leistete er den Militärdienst ab und wurde dann, wie seine Brüder, während des Ersten Weltkriegs als Soldat der k.u.k. Armee an der Ostfront eingesetzt. Nach dem Krieg baute er sein Geschäft aus und gründete im Jahr 1923 mit Anna Fließer eine Familie. In den folgenden Jahren bekamen sie drei Kinder: Karl (geb. 1924), Helmut (geb. 1926) und Vera (geb. 1930).
Abbildung 1: Aus dem Familienalbum Neufeld (Album II).
Abbildung 2: Aus dem Familienalbum Neufeld (Album II).
Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 hatte es die Familie zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Neben dem Gemischtwarengeschäft mit einem Angestellten und einem Lehrling betrieb man ein Autotransportunternehmen und eine öffentliche Brückenwaage. Zudem war Carl Neufeld Eigentümer des Geschäftsgebäudes, in dem noch ein Gasthaus untergebracht war, wie auch eines angrenzenden Wohnhauses, in dem die Familie lebte. Aus allen vorhandenen Quellen der Familie ebenso wie der NS-Behörden kann man erkennen, dass die Familie wirtschaftlich erfolgreich war und ein erfülltes Familienleben führte. Diese bürgerliche Existenz dokumentieren auch die Familienalben. Bis ins Jahr 1938 dominieren Fotos von Familienfeiern, gemeinsamen Ausflügen und einzelnen Familienmitgliedern die Bilderzählung.
Abbildung 3: Aus dem Familienalbum Neufeld (Album I).
Wie groß der Bruch 1938 für die Familie war, zeigen zwei Seiten in den Alben I und II. Auf beiden Blättern finden wir, einer Inventur gleich, die Familie in einzelnen Portraitbildern vorgestellt. Sie werden noch einmal als Einheit positioniert, eine Einheit, die es in dieser Form nicht mehr geben wird, wie die weitere Geschichte zeigt. Denn auch die gesellschaftlich und ökonomisch abgesicherte Position der Familien in Straßgang änderte nichts an der Tatsache, dass mit dem »Anschluss« im März 1938 die ersten gezielten Verfolgungsmaßnahmen einsetzten. Davon berichtet Carl Neufeld ausführlich in seinen 1940 im Exil verfassten Memoiren, die auf knapp 300 handschriftlichen Seiten minutiös den Prozess der Beraubung und Vertreibung aus Straßgang und Österreich dokumentieren. So musste Neufeld nach dem 12. März 1938 seinen Reisepass bei der örtlichen Polizeistation hinterlegen. Seine Kunden wurden durch SA-Posten am Eingang des Geschäftes am Einkaufen gehindert und zudem die Rollläden seines Geschäfts beschmiert. Zugleich nahmen örtliche Nationalsozialisten zunehmend Besitz von seinem Betrieb und in seinen Räumlichkeiten wurden von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) Kochkurse abgehalten. Der Pächter der Gastwirtschaft verweigerte die Bezahlung des Pachtzinses und örtliche Parteimitglieder »borgten« sich sein Auto, das schließlich von der SS konfisziert wurde. In Hausdurchsuchungen wurden Schmuck und andere Wertgegenstände geraubt. »Einfache« Nationalsozialisten, Gestapo, Polizei, Kommissarische Verwalter und potentielle »Ariseure« setzten Neufeld in den folgenden Monaten immer stärker unter Druck, damit er der »Veräußerung« seines Eigentums zustimme und das Deutsche Reich verlasse. So wurde ihm erstmals am 21. Juni 1938 von der Gestapo mit Haft gedroht und im Zuge dessen die Ausreise bis 1. September 1938 vorgeschrieben. Im August wurde er gemeinsam mit seiner Frau schließlich verhaftet, nach einiger Zeit jedoch wieder freigelassen, ehe er im Zuge der Verhaftungswelle anlässlich des Novemberpogroms erneut in die Fänge der Gestapo geriet. Gemeinsam mit rund 300 Juden aus Graz wurde er am 10. November verhaftet, nach Dachau deportiert und erst nach Wochen der Qualen Ende Dezember 1938 wieder nach Graz entlassen, um beim Abschluss der »Arisierung« seines Eigentums anwesend zu sein. Die Kinder konnten das Schuljahr 1937/38 noch beenden, wurden dann jedoch am weiteren Schulbesuch gehindert. Vera, zu diesem Zeitpunkt 8 Jahre alt, besuchte bis dahin die jüdische Volksschule am Grieskai. Helmut (Helly), 12 Jahre alt, und Karl (Charlie), 14 Jahre alt, konnten den Besuch des Oeverseegymnasiums nicht weiter fortsetzen und hatten, wie mir Vera Neufeld erzählte, fortan viel Zeit zur Verfügung, die sie mit ihren Freunden verbachten. Charlie, ein leidenschaftlicher Fotograf, hielt diese Zeit mit seiner Kamera fest: Die Welt des Jugendlichen ist in der Erzählung des Fotoalbums von Ausflügen und Gemeinschaftsunternehmungen bestimmt.
Abbildung 4: Fotoalbum Karl (Charlie) Neufeld.
Abbildung 5: Fotoalbum Karl (Charlie) Neufeld.
Von den Qualen, die Carl und Anna Neufeld in den Monaten nach dem »Anschluss« zu erleiden hatten, berichten die Fotoalben jedoch nicht. Die Verfolgungsgeschichte ist in diesem Medium familiärer Erinnerung nicht erinnerungswürdig. Es gibt lediglich eine Seite, die auf die Zerstörungswut der Nationalsozialisten hinweist. Konkret sind es drei Bilder der am 10. November niedergebrannten Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof in der Alten Poststraße in Graz, die mit dem Aufnahmedatum 11. November 1938 und dem Hinweis »Die Zerstörung der Aufbahrungshalle« beschrieben sind. Diesen Bildern wird ein Bild der noch intakten Zeremonienhalle und ein Einblick in den Friedhof, eine Ansicht auf Graz, aufgenommen vom Standort der Synagoge, sowie eine Ansicht eines Gebäudes, das keine nähere Erläuterung erhält, zur Seite gestellt.
In der Familienerinnerung, so wie sie sich in den Alben widerspiegelt, soll die Zerstörung keinen zentralen Platz erhalten. Vielmehr erzählt man das Narrativ der Familie, die es trotz aller Widrigkeiten schafft, den Nazis zu entkommen.
Unmittelbar nach der Rückkehr aus Dachau versucht Carl Neufeld so gut es geht, die Ausreise/Flucht zu organisieren. Ein Unterfangen, das sich jedoch immer wieder verzögerte und bei dem er mit einer Reihe von Problemen — unter anderem der Bezahlung der Schiffskarten — konfrontiert war. Um die Ausreise ebenso wie die Beraubung zu beschleunigen, wurde er Ende Februar 1939 von der Gestapo dazu gezwungen, der so genannten »Aktion Judenauswanderung aus der Steiermark« beizutreten. Der Beitritt zu dieser »Aktion« bedeutete für Neufeld, dass er sein gesamtes noch vorhandenes Vermögen in die Verwaltung derselben respektive an das Bankhaus Krentschker & Co zu übergeben hatte und ihm dafür die Ausreise erlaubt wurde. (Kumar 2016, 122–127) In weiterer Folge beauftrage die »Aktion« einen Grazer Rechtsanwalt mit der Vermögensverwertung, womit Carl Neufeld nach zähem Ringen als Akteur aus dem Beraubungsprozess weitgehend ausschied.
Er musste sich vielmehr weiter mit allen Kräften darum bemühen, die Flucht seiner Familie zu organisieren, was ihm und seiner Familie mit finanzieller Unterstützung seines Bruders und der Hilfe einer Grazerin — Frau Gräfin Hoyos — Mitte Juli 1939 schließlich auch gelang.
Abbildung 6: Aus dem Familienalbum Neufeld (Album I).
Von den vielen Hürden, die er und seine Familie bis zur glücklichen Abreise von Wien am 13. Juli 1939 zu überwinden hatten, berichten die beiden Memoirenbände, die er im sicheren Exil verfasst hat. Die Fotoalben hingegen, die das bildliche Erinnerungsnarrativ der Familie darstellen, rücken von den vierzehn Monaten zwischen dem »Anschluss« und der Ausreise andere Aspekte in den Vordergrund. Nach der Bestandsaufnahme der Familie und den wenigen Bildern von der Zerstörung sind es vor allem die knapp zweieinhalb Monate von Ende April 1939, die die Familie nach der Abreise von Graz in Wien verbrachte, bis Mitte Juli, der tatsächlichen Ausreise. Es sind Bilder, die, ohne Kenntnis der Umstände, eine Familienreise vermuten ließen. Bilder von der Wohnung am Möllwaldplatz in Wieden, von der Vermieterin und vor allem von Familienmitgliedern vor Sehenswürdigkeiten und bei gemütlichen Zusammenkünften mit Freunden. Im Hintergrund immer wieder Hakenkreuzfahnen.
Abbildung 7: Aus dem Familienalbum Neufeld (Album I).
Über diese Zeit berichtet Carl Neufeld in seinen Memoiren immer wieder in knappen Absätzen:
»Am 23.5. ist unser Hochzeitstag. Kinder kaufen mir ein Anhängsel zur ewigen Erinnerung. Nachmittag machen wir eine Photo-Aufnahme am Mozartplatz und Burg – Heldenplatz. Sanko hat bereits furchtbare Angst und Wien will er so schnell als möglich verlassen. Ich bin mit Sanko jeden Tag bereits nachmittag im Caffè Corso am Ring. Obwohl für Juden unerwünscht der Zettel auch dort wie überall prangt, sind wir ganz gerne gesehen dort und werden immer höflich behandelt.« (Neufeld Memoiren Bd. 2, 139–140.)
Abbildung 8: Aus dem Familienalbum Neufeld (Album I).
Als die Familie Besuch aus Graz bekommt, hält er fest:
»Wir zeigten Annerl ganz Wien, waren mit ihr auch im Prater wo wir mit Blumen-Firmungswagen versch. Aufnahmen machten. Einmal waren wir mit Annerl und Sanko, Mizi und Franzl in Neustift im Walde beim Heurigen im Gasthaus Carnely, die einmal in Ramsau war, dort war es sehr lustig und guter Wein. Annerl war beinahe eine Woche bei uns und fuhr dann wieder nach Hause.
Wir machten wunderbare Ausflüge, so nach Schönbrunn, einmal nach Aspern Flughafen und Sonntag einen mit Sanko, Mizi und Franzl in die schöne Umgebung und Wienerwald zusammen. Da waren wir auf der Sophien-Alm, beim Steinbruch im Walde, Leopoldberg. Salmannsdorf, Ober St. Veit, Hütteldorf, Grinzing, Sievering, Dornbach, Liebhartstal etc. etc. Es gibt nur ein Wien! Das Herz blutet, wenn daran denke, diese schöne und herrliche Stadt von den braunen Horden besetzt.« (Neufeld Memoiren Bd. 2, 144–145.)
Abbildung 9: Fotoalbum Karl (Charlie) Neufeld.
Dass es sich bei diesen Fotografien aber dann doch um keine unbeschwerten touristischen Reisefotografien handelt, vereutlicht beispielsweise ein Bild, aufgenommen am Heldenplatz mit Blick auf die Nationalbibliothek. Die Familie steht nicht wie bei touristischen Aufnahmen üblich, frontal vor dem Gebäude, sondern etwas abseits vor einen Gebüsch und das monumentale Bauwerk ist nur teilweise zu erkennen. (Abb. 8 links unten) Dieses Bild vom Rand verdeutlicht letztlich die Unsicherheit, mit der sich eine jüdische Familie 1939 in Wien bewegte und lässt die stete Bedrohung erahnen mit der man konfrontiert war. Und auch wenn es diese schönen Momente mit Freunden und der Familie gab wie auch die guten Erfahrungen mit einzelnen Menschen, so bleibt das Hauptaugenmerk doch stets die Flucht. Und dementsprechend bildet den Abschluss der Bildserie zum Wiener Aufenthalt auch die fotografische Dokumentation der Abreise vom Wiener Westbahnhof, gefolgt von der Ankunft im sicheren Exil. (Abb. 10-12)
Carl Neufeld dazu in seinen Memoiren:
»Und nun kommt noch der heißersehnte Tag unserer Abreise. Es ist ein herrlicher Sommertag. Unser Abschied von Frau Paulsen fällt uns allen schwer. Die Frau war so anständig und nett bis zur letzten Stunde, werde sie nie vergessen. Sogar die Hausmeisterin weinte, als sich verabschiedete. Das waren echte Wiener Herzen zum Unterschied der Nazi-Horden. Wir hatten noch 16 Stück Handgepäck, was nicht angenehm war bei uns. Um 1h nahmen wir uns ein großes Taxi und nun gings zum letzten mal durch die schöne Wienerstadt vom Möllerwaldplatz zum Westbahnhof. Endlich erleben wir die so heißersehnte Stunde, Mizi, Franzl und Frau Rakower sind am Bahnhof. Ebenso viele Freunde Charlies und auch Schwarz Käthe. Kinder machen noch einige gut gelungene Photo-Aufnahmen. Die Minute zum Abschiednehmen kommt heran. Alles weint; auch wir sind ergriffen. Werden wir Wien je im Leben noch einmal wiederseh’n? Wir steigen in den direkten Waggon Wien-Köln-Vlimingen [Vlissingen]-Holland-Harwitsch [Harwich]-London. Um 2h ein schriller Pfiff, der Zug setzt sich in Bewegung.
O mein lieb Heimatland ade!!«
(Neufeld Memoiren Bd. 2, 150–151.)
Abbildung 10: Aus dem Familienalbum Neufeld (Album I).
Die Reise führt über Köln nach Holland und dann mit der Fähre in die Freiheit. Das Deutsche Reich verlassen sie in Venlo:
»Der Zug hält alsbald und wir sind auf der holländischen Grenz-Station Venlo. Wir küssen uns alle und nun sind wir aus der Hölle. Wir weinen beinahe.« (Neufeld Memoiren Bd. 2, 155.)
Abbildung 11: Fotoalbum Karl (Charlie) Neufeld.
Abbildung 12: Fotoalbum Karl (Charlie) Neufeld.
Der Übertritt mit der Fähre von Ostende nach Harwich bildet das Ende der Erzählung der Flucht. Im britischen Exil wird die Familie getrennt und das erste Zusammenkommen findet erst zu Weihnachten 1939 in Schottland statt. Dieser Moment, an dem die Familie wieder vereint wird, ist auch im Fotoalbum festgehalten (Abb. 13) und bildet den Abschluss der Memoiren von Carl Neufeld. Er schreibt:
»Charlie und Vera kommen auf Weihnachts-Urlaub zu uns. Nun ist unser Glück voll. Endlich nach so langer Zeit sind wir wieder alle beisammen. Das ist eine unbeschreibliche Freude für uns alle. Wir haben uns ja so viel zu erzählen. Charlie und Vera sprechen schon gut Englisch. Abends spielen immer Karten und es kommt uns allen vor, als wären wir zu Hause in Straßgang.« (Neufeld Memoiren Bd. 2, 179.)
Auch wenn die Memoiren von Carl Neufeld mit der Wiedervereinigung der Familie in Schottland zu Weihnachten 1939 enden, so wird die Bilderzählung in den Fotoalben fortgesetzt. Die Geschichte der Verfolgung und der Flucht nimmt in dieser Erzählung einen letztlich kleinen Teil ein und wird in eine größere Erzählung des familiären Zusammenhalts eingebettet. Es ist hierbei stets die Familie, die im Mittelpunkt der Erzählung steht und die Fotoalben sind gleichsam die privaten Gedächtnisspeicher. (Assmann 2004) Sie sind die Träger der Erinnerung wie auch der Ausgangspunkt der Erzählung, wie ich selbst in Gesprächen mit Vera Neufeld erfahren durfte. Sie erzählen uns Geschichten über das Leben der Jüdinnen und Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft, die wir aus den Quellen, die uns die Verfolger und Peiniger hinterlassen haben, niemals in dieser Weise erfahren werden. Und schließlich zeigen sie uns, wie die Familien mit dieser Erfahrung umgegangen sind und wie sie sie erinnern wollen und können.
Abbildung 13: Aus dem Familienalbum Neufeld (Album II).
Literatur und Quellen
Privatarchiv Vera Neufeld
Familienalben I, II, III und IV von Vera und Karl Neufeld
Memoiren Band I und II von Karl Neufeld
Archiv der IKG Graz
Geburtsmatrikeln der IKG Graz Bd. I.
Steiermärkisches Landesarchiv
StLA, LReg. Arisierung Komm. 140.
StLA, LReg. Arisierung LG 5595.
StLA, LG f. ZRS Graz Rk 167/1948.
StLA, Finanzlandesdirektion (FLD) Arisierungen 06300-466-P8 Karl Neufeld.
Aly, Götz und Susanne Heim. 2013. Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch).
Ashkenazi, Ofer. Exile at Home. Jewish Amateur Photography under Nazism, 1933–1939. Vortrag gehalten am Centrum für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität am 29. April 2019.
Assmann, Aleida. 2004. ‘Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses’, Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität Historizität Kulturspezifität, herausgegeben von in Astrid Erll und Ansgar Nünning (Berlin: de Gruyter), 45–60.
Friedländer, Saul. 2007. Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte (Göttingen: Wallstein).
Hecht, Dieter J., Eleonore Lappin-Eppel und Michaela Raggam-Blesch. 2015. Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien (Wien: Mandelbaum).
Kaplan, Marion. 2003. Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland. Aus dem Amerikan. von Christian Wiese (Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verlag).
Kumar, Viktoria. 2016. Land der Verheißung — Ort der Zuflucht. Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945 (Innsbruck, Wien, Bozen: Studien-Verlag).
Lamprecht, Gerald. 2016. ‘NS-Herrschaft als ›soziale Praxis‹ am Beispiel des Schicksals von Familie Neufeld aus Straßgang’, in Geschichte erben — Judentum Re-formieren. Beiträge zur modernen jüdischen Geschichte in Mitteleuropa, herausgegeben von Petra Ernst, Dieter Hecht, Louise Hecht und Gerald Lamprecht (Wien: Mandelbaum), 194–195.
Sontag, Susan. 192010. Über Fotografie (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch).