Ulrike Langbein
Das Stehen ist vertraut und verdächtig. Es scheint aus der Zeit gefallen: Die Moderne gebietet Entwicklung. Das hochmobile Zeitalter fordert Bewegung und Beweglichkeit. Dabei steht das Stehen am Anfang und bedeutet Menschwerdung: Der Homo Erectus steht auf. Das Kleinkind stellt sich auf die Füße, um laufen zu lernen. Wer umfällt, ist am Ende. Das Stehen ist eine Geste (Vilém Flusser), eine symbolische Bewegung des Körpers und damit nie ohne Sinn.1 Die Welt des Stehens reicht von Anstand bis Zustand, von abstehenden Ohren bis zustehendem Erbe. Ein Stehkragen gehört dazu, ein Umstandskleid ebenso. Fünf Standbilder widmen sich ausgewählten Phänomenen des Stehens. Sie führen Beobachtungen zusammen und denken an ihnen herum. Die Betrachtung schlendert durch das Stehen. An semantisch dichten Orten macht sie kurz Station, denn Stehen ist komplex und voller Ambivalenz, situativ immer Antipode oder Zwilling – nicht nur der Bewegung.
» Dastehen «
Vom »Stitz« erzählten mir Mitte der 1990er Jahre einige Designer an der Universität der Künste Berlin, von einem Stehsitz, an dem sie damals feilten. Er fordert aktiv-dynamisches Sitzen, das Rückenschmerzen ebenso vorzubeugen sucht wie geistiger Trägheit. Auch das Stehpult hält Körper und Kopf in Schach, es macht Redende zu Rednern. Mit Stitz und Pult verwandt ist der quietschbunte Kunststoffball, der zum bewegenden Inventar von Büros, Sportstudios und Geburtsvorbereitungskursen gehört – für die farb- und materialsensible Kundschaft nunmehr mit naturfarbenem Filz ummantelt.
Stehen wirkt nach innen und außen: Meine Großmutter, liebevoll, streng und kerzengerade, vermittelte ein bürgerliches Aufrichtungsprogramm, das sie selbst schon geerbt hatte. Wenn ich lässig dastand oder bei Tisch saß, legte sie mir die Hand zwischen die Schulterblätter und sagte »Halt’ Dich gerade, Kind!« Mit der Generation der »Liegenden«, also jenen 17- bis 20-Jährigen, die den halben Tag verschlafen, um sich dann mit Tablet, Laptop und Handy aufs Sofa zu begeben, hätte sie Mühe gehabt.2 Der italienische Autor und Kolumnist Michele Serra beschreibt polemisch und gelassen einen Generationenkonflikt, der mehr zu sein scheint: Angesichts von Liegelandschaften im Möbelhaus und der symbolischen Nobilitierung von Loungewear dürfte es nicht nur um liegende Teenager, sondern um grundlegende Informalisierungsprozesse gehen, die sich in den Dingen und Haltungen artikulieren. Jedenfalls: Als ich jung war gehörten die Leibesübungen aktiven Stehens zum zackigen Sportunterricht. Mit Knie- und Rumpfbeugen, Standwaage, Hand- und Kopfstand wurden Beweglichkeit und Standfestigkeit zugleich trainiert. Höher hinaus ging es im Ballett: Es stellte die Elevinnen auf die Spitzen. Piqué, Plié und Pirouette bedeuten gerader Rücken, stehen, Körperspannung.
Ganz anders aufgestellt sind Tai Chi, Yoga sowie aktuelle Unternehmungen der Achtsamkeit. Sie trainieren die Selbstwahrnehmung und -fürsorge, es geht um Gesundung durch Erdung: Flächig verbinden sich die Füße mit dem Boden, die Beine sind leicht gebeugt und geöffnet. Bedarf ist da, denn es geht auch um Stressreduktion: Das DAX-Unternehmen SAP, der in der Provinz beheimatete Global Player, hat sich von amerikanischen Firmen inspirieren lassen. Am Standort in Walldorf (Baden-Württemberg) gibt es einen »Raum der Stille«, wo Yoga und geführte Meditationen im Stehen und Sitzen stattfinden — die erste um 7.30 Uhr.3 »Mindfulness« soll der Reizüberflutung Einhalt gebieten. Exerzitienmeister der betrieblichen Vorsorge ist der Wirtschaftsingenieur Peter Bostelmann, der als »Director of Global Mindfulness Practice« längst andere Unternehmen berät. Ja mehr noch: 2016 entwickelte SAP einen neuen Geschäftsbereich, der Achtsamkeitskurse vertreibt. Bostelmann versteht seine Angebote als »Begleitservice zum digitalen Wandel«, mit überzeugendem Return on Investment: Leistung und Effizienz wachsen, Krankentage gehen zurück. Achtsames Stehen achtet auf Selbstwert und Wertschöpfung. Der Stillstand, der die Ökonomie sonst das Fürchten lehrt, ist selbst Produkt und ökonomische Praxis – als betriebswirtschaftliche Effizienzstrategie und als Technik der Selbstoptimierung.
» Aufstehen «
Das Stehen (re-)produziert demnach Wertvorstellungen, und zwar nicht nur ökonomischer Art. Wir werden körperlich aktiviert und mehr gefordert als im Sitzen, das als kommod-legere Haltung gilt. Ganz unmittelbar lassen dies Praktiken der Ehrerbietung erkennen: Erwachsenen in der Tram den Platz anzubieten, lernte ich als Kind ebenso, wie mich zu erheben, wenn Gäste kommen oder Lehrer das Klassenzimmer betreten. Früh und mit nachhaltiger Wirkung werden die Körper trainiert, denn die soziale Welt zeigt sich als Steh- und Sitzordnung. Wir kennen das Geburtstagsständchen (eben kein Sitzchen) ebenso wie Standing Ovations. Beim Vaterunser und beim Abendmahl erhebt sich die Gemeinschaft der Gläubigen. Menschen stehen am Sarg und während der Schweigeminute im Bundestag. Diese Gebote und Verbote sind einverleibt, denn sie erzeugen das Gefühl für Angemessenheit, den Anstand, der als Emotionspraxis (Monique Scheer) Normen und Machtverhältnisse spiegelt und erzeugt.4 Auf dem Thron sitzt standesgemäß nur die Königin, die Untertanen geben ihr stehend die Ehre. Paraden oder Defilees hingegen weisen dem Stehen eine andere Bedeutung zu: Wer das Sagen hat, steht und muss nicht vorbeimarschieren.
Das Stehen ist auch eine Technik der zeitlichen Rhythmisierung: »Aufstehen!« Noch heute ist mir die Stimme meiner Mutter im Ohr, die den morgendlichen Weckdienst innehatte. Rechtzeitig aufzustehen fordern Kita, Schule und Arbeitsplatz. Sprichwörter und Lieder lobpreisen den Wert der frühen Stunde, die moralisch und ökonomisch zu denken ist: »Morgenstund’ hat Gold im Mund«, weil der frühe Vogel den Wurm fängt. Auf eindrückliche Weise stellt Edward P. Thompson dar, wie die Zeitordnung der protestantisch imprägnierten westlichen Welt entstand und inkorporiert wurde.5 Die gesellschaftlich legitimierte Zeit gibt den Takt vor, auch wenn viele anders ticken. Wirkungsvolle Agenten der Zeit sind die Dinge: Im Fall der Smart Watch überschreibt der Wille zur Selbstoptimierung das Gefühl der Fremdsteuerung. »Für dein besseres Ich. Damit du noch aktiver, gesünder und immer in Verbindung bleibst«.6 Normen und Wertvorstellungen sind subjektiviert. Es geht nicht nur um die Zeit, sondern um Kontrolle. Wie arglos scheinen dagegen Wecker mit Schlummer- und Wiederholfunktion oder einer, der nicht schrillt oder piept, sondern die Morgensonne vortäuscht. Dem Sonnenaufgang widmet sich auch ein Kanon, den wir im Kinderchor sangen »Wachet auf, wachet auf! Es krähte der Hahn. Die Sonne betritt ihre goldene Bahn.«7 Ein anderes Lied lernten Generationen von Kindern in der DDR: »Wenn Mutti früh zur Arbeit geht« (1954).8 Es repräsentiert neben den Geschlechterrollen auch die zeitliche Ordnung im Land der Frühaufsteher: Weil die Mehrheit in Fabriken arbeitete, gaben die Maschinen den Takt vor. Deshalb begann der Arbeitstag auch in Büros, Behörden, Geschäften oder Museen zwischen 6.30 und 7 Uhr. Nicht auf die Tages- sondern auf die endliche Lebenszeit nimmt ein Stehen besonderer Art Bezug: die Auferstehung, in der die Angst vor dem Tod und seine Überwindung gleichermaßen erkennbar werden. Im Christentum ist der Glaube an die eigene Auferstehung ebenso zentral wie die von Jesus Christus, beide finden sich im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Dass die Ängste bleiben, zeigt die Parallelwelt der Volksfrömmigkeit, die mit ihren Wiedergängern unerwünschte Auferstehungen kennt. In nicht religiösen Kontexten wiederum reüssiert das Auferstehen als Metapher für einen Neuanfang, der damit symbolisch überhöht wird. »Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt« begann etwa die Nationalhymne der DDR — stehend gesungen oder gehört.9 Angesichts der Religionsfeindlichkeit in der DDR verwundert die christlich geprägte Auferstehungsrhetorik zunächst. Jedoch wirkt sie hier als reine Pathosformel: Sie vermittelt das Ende des verheerenden Zweiten Weltkriegs und den Untergang des nationalsozialistischen Deutschlands. Gleichzeitig wird der nationale Neuanfang heroisiert. (Es gab übrigens auch die »10 Gebote der Jungpioniere«.)
» Hinstehen «
»Der Peter, das ist einer, der hinsteht«, erzählte mir Claudia aus Freiburg mit bedeutungsschwerer Geste. ›Hä?‹, meuterte mein mitteldeutsch geprägtes Sprachgefühl. Eine im Badischen verbreitete dialektale Form irritierte die Zugezogene. Claudia beschrieb einen aufrechten Mann, den Peter eben, der sich nicht wegduckt, wenn es hart kommt; der Rückgrat beweist, wenn andere einknicken; der standhaft ist, wenn andere das Fähnchen nach dem Wind richten. »Aaneschtoo«, sagt man in Basel, das tönt ganz ähnlich und meint das Gleiche.10 Der Nexus von Stehen und Widerstand findet sich in politischen Zusammenhängen oft wieder: Die vielschichtige Metaphorik des Aufrechten arbeitete Bernd Jürgen Warneken schon für das 19. Jahrhundert heraus: als Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins; als Disziplinierung im Zeichen der Vernunft, die sich gegen den schwachen Körper richtet; als frühe nationalstaatliche Drillübung.11 Gegen Gehorsam und Bevormundung war die friedliche Revolution der Ostdeutschen gerichtet, die sich unter dem Zeichen des »aufrechten Gangs« versammelte.12 Vor allem Schriftsteller und Pfarrer nahmen auf die bürgerliche Auflehnung Bezug, die sich in der DDR wirkungsvoll mit sozialistischen Protesttraditionen verband und auf staatsbürgerliche Selbstermächtigung drängte. Zehn Jahre später, nach dem antisemitisch motivierten Anschlag auf die Düsseldorfer Synagoge, forderte der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder einen »Aufstand der Anständigen«. Er formulierte den politischen Machtanspruch einer demokratischen Ordnung, die wehrhaft ist und sich ihrer ethischen Grundlagen vergewissert. Seine Worte wurden bald zum Leitmotiv in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.
Sozialistische Traditionen und Historiographien kennen das Hin- und Aufstehen vor allem als Aufstand. Mit einem Weckruf beginnt der deutsche Text der Internationale »Wacht auf, Verdammte dieser Erde!«13 Soziale Unruhen und Revolten werden als Aufstände bezeichnet, weil Menschen sich erheben und aufbegehren: der Sklavenaufstand, angeführt durch den Gladiator Spartakus (73 v. Chr.), der Aufstand der schlesischen Weber (1844), der Spartakusaufstand in Berlin (1919) – um nur einige Ereignisse zu nennen, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Aktuell versucht die Bewegung Aufstehen, eine neue linke Mehrheit in Deutschland zu versammeln. Und Wien wehrt sich unter dem Hashtag #WienStehtAuf gegen den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz. Er hatte von der Stadt eine Reform gefordert, die Sozialleistungen reduzieren soll, und dabei Wien pauschal diffamiert, indem er behauptete, hier stehe niemand mehr früh auf. Da war es wieder, das frühe Aufstehen, das allein bürgerliche Tugenden wie Tätigsein, Pflichterfüllung und Fleiß beweist. (Dabei gibt es Spätdienst und Nachtschicht.) Kurz jedenfalls muss für seinen Fehltritt geradestehen. Die Wienerinnen und Wiener zeigen, dass sie zusammenstehen — eine Frage der Ehre und einer solidarischen Stadtgesellschaft.
» Stillstehen «
Von stehenden Ehrerbietungen, die soziale Ordnungen referenzieren und produzieren, war bereits die Rede. Das Militär kennt besonders viele Formen.14 Empfang mit militärischen Ehren beim Staatsbesuch: Gast und Gastgeber schreiten die Reihe der Soldaten ab, deren uniformierte und bewaffnete Körper Wehrhaftigkeit signalisieren. In historischer Montur tun das auch die Schweizer Garde und »Bärenmützen«, die Vatikan und Buckingham Palace bewachen. Machtvoll stellte sich das Wachregiment »Feliks Dzierzynski«, der militärische Arm des Ministeriums für Staatsicherheit, bis 1989 in Ost-Berlin auf. Ob nun beim Papst oder vor dem Palast, am Denkmal oder am Fahnenmast — überall werden mittels Ehrerbietung Autoritäten erzeugt, bestätigt und beschützt. Es wird auf sie Acht gegeben: Wachsamkeit als militärische Variante der Achtsamkeit. Militärrituale sind aber auch Imponierrituale. Männliche Körper werden zu Soldatenkörpern geformt, die gestählt und aktiviert aufmarschieren. Sie stehen für den Ernstfall parat, die Mobilisierung der Körper geht der Mobilmachung der Heere voraus.
Nahezu ikonisch ist der Befehl »Stillgestanden!«, der für autoritäre Verhältnisse und Kulturen des Gehorsams steht. Als visueller und akustischer Topos fehlt er in keinem Kriegsfilm, gebrüllt von allen Drill Sergeants dieser Welt. Der Imperativ zielt auf Körper und Seele. Er duldet keinen Widerstand und verweist auf das Wie des Stehens, nämlich stramm und mucksmäuschenstill, geordnet in Reih’ und Glied. Ertüchtigte Körper. Schlaffe sind bedrohlich, denn sie zersetzen die Wehrkraft — militärisch und politisch. Stillgestanden tönt(e) es auch außerhalb der Kasernen: Unwohlsein bereitet mir noch heute manche Erinnerung an meine Schulzeit in der DDR, vor allem an den Sport- und Wehrunterricht, die ohnehin ineinander flossen. Sie begannen mit besagtem Kommando, das sich wie das Schießtraining gleichermaßen an Jungen und Mädchen richtete. Wenn alle still standen, wurde die Bereitschaft der Gruppe gemeldet, worauf der verbale Gnadenakt des »Rührt Euch!« folgte, der Entspannung gestattete.
Weil es anstrengend ist und Menschen exponiert, wird das Stillstehen auch in Demütigungsritualen eingesetzt: Gewaltherrschaften kennen die Strafe des Stehens bis zum Umfallen, das Körper und Willen bricht. Wer in der Ecke, vor Gericht oder am Pranger steht, wird sichtbar gemacht. Die Strafe schleift den Körper durch langes Stehen. Zugleich werden Bestrafte sozialräumlich von der Gruppe isoliert und so der Gewalt von Blicken, Worten und Übergriffen ausgesetzt. Eine Gewalt anderer Dimension lag beim Standgericht. Das war ein ursprünglich im Stehen tagendes Ausnahmegericht, das in Kriegszeiten oder bei Unruhen eingerichtet wurde. Es gehörte zum Militärrecht und war befugt, im Krisenfall mit Militärs und Zivilisten gleichermaßen kurzen Prozess zu machen: d.h. schnell, ohne die üblichen Rechtswege und mit verschärftem Strafmaß. Die Strafen, die überwiegend zum Tod führten, wurden ebenfalls umgehend vollstreckt.15
» Herumstehen «
»Was es braucht, bevor was abgeht«, sprachlich jugendnah präsentiert sich das Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt auf seiner Homepage.16 Die wiederum benennt sowohl die Spielregeln für Straßenmusik wie auch die Bußen bei Missachtung: Auf den Bühnen der Stadt dürfen in einer Gruppe nicht mehr als vier Personen auftreten, nur werktags, nur in festgefügten Zeitfenstern, nur ohne Verstärker. Außerdem: »Am gleichen Ort darf pro Tag und darbietende Einheit nicht mehr als eine halbe Stunde Strassenmusik bzw. -kunst dargeboten werden.« Dann muss die Karawane weiterziehen, dies wiederum mindestens so weit, dass sich die Hör-Radien des zeitlichen Davor und Danach nicht überschneiden. — Weitergehen, Mobilität, In-Bewegung-Sein gebieten die öffentlichen Ordnungen unserer Städte, es sei denn, es wird konsumiert.17 Und selbst dann: Stehimbiss und Stehcafé verköstigen auf dem Sprung. Die Wurst auf die Hand und der Coffee to go laufen ganz und gar mit. Der Imperativ der Bewegung prägt städtisches Leben. Verorten und Verharren hingegen scheinen obsolet, wenngleich »Stadt« etymologisch vom mittelhochdeutschen »stat« abstammt, das Ort und Stelle meint und in Begriffen wie Werkstatt, Station, Status oder Standard präsent bleibt.18 Stadt ist auch eine Verortung, eine räumliche Festlegung, die architektonisch, administrativ und sozial fixiert und ausgehandelt wird. Diese Dimension des Statischen beziehungsweise der Abfolge von begrenzten Situationen (zeitlich) und Stationen (räumlich) überblendet das dominante Narrativ: Die Stadt erscheint als Ort des Fließens, der Dynamik und Mobilität. Stillstand in all seinen Facetten gilt als verlorene Zeit, weil Zeit Geld ist, weil Herumsteher keine Macher sind, weil der Verkehr rollen muss und sich nichts stauen darf. Urbane Störfälle und stadttypisch zugleich sind die blockierte Straßenbahn und das Schlangestehen auf dem Amt; der Straßenstrich hinterm Bahnhof und ein Oberdachloser, der im Eingang zum Supermarkt steht und sich aufwärmt.
Ein Steher jedoch hat es weit gebracht. Literatur und Karikatur, Boulevardtheater und Tourismus haben aus einem aufmüpfigen Gelegenheitsarbeiter ein verklärtes Berliner Original gemacht: Der Eckensteher Nante wartet auf Arbeit und steht an seiner Ecke, wo er lakonisch sein kümmerliches Dasein besingt:
» Det beste Leben hab ick doch,
ick kann mir nich beklagen,
pfeift ooch der Wind durchs Ärmelloch,
det will ick schon verdragen.
Det Morgens, wenn mir hungern tut,
ess ick ne Butterstulle,
Und dazu schmeckt mir der Kümmel jut
aus meine volle Pulle. «19
Den Menschen, Räumen und Rhythmen der Stadt folgt auch die Stadtforschung: Sie geht über Straßen und Plätze, taumelt durch die Nachtstadt, erfasst Quartiere und Bahnhöfe en passant.20 Walter Benjamins berühmt gewordener Flaneur zieht gar in einem »anamnestischen Rausch durch die Stadt«.21 Es scheint, als sei auch das Denken über die Stadt dem Paradigma der Bewegung verpflichtet. Dann und wann aber hält der Körper inne. Seine Bewegung wird zur Betrachtung, die Warenhaus, Café oder U-Bahn inspiziert.22 Denn im Stehen erst wird der Blick fokussiert, versenkt sich ins Detail und schweift langsam durch den Raum. Die Stadtforscher_in braucht also beides: das Stehen und die Bewegung, die sowieso nie ohne einander auskommen.
Zum Schluss: Verstehen
Dastehen, Aufstehen, Hinstehen, Stillstehen, Herumstehen — Fünf Standbilder. Sie öffnen den Blick für eine Haltungsfrage und ihre kulturellen Kodierungen. Körpermodellierungen durch Möbel, Erziehung und Leibesübungen im Zeichen der Achtsamkeit fasst der Abschnitt Dastehen zusammen. Er zeigt, wie sich Normen und Wertvorstellungen als Haltungsideale ausbuchstabieren. Diesen Gedanken führen Überlegungen zum Aufstehen weiter. Sie kommen auf Zeitregimes und die korrespondierenden Selbsttechniken der Effizienz und Kontrolle ebenso zu sprechen wie auf die Praxis der Ehrerbietung, die soziale Ordnungen als Sitz- und Stehordnungen (re-)produziert. Unter den Schlagwörtern Hinstehen und Stillstehen werden Kulturen des Gehorsams und des Aufbegehrens in ihren Metaphern und Körpertechniken beleuchtet. Der letzte Abschnitt wendet sich dem Herumstehen zu. Weil die moderne Stadt dem Imperativ der Bewegung verpflichtet ist, geraten Stillstand und das Stehen im öffentlichen Raum unter Verdacht, dem Polizei, Stadtplanung und -verwaltung begegnen. Fünf Standbilder: Jedes vermittelt, dass historische Einschreibungen das Stehen ebenso (re-)produzieren wie gleichzeitige Positionierungen im sozialen Raum. Als vielstimmige Körpertechnik verlangt das Stehen ein Denken in Relationen, Differenzen und Ambivalenzen — das Verstehen auch.
1. Vilém Flusser, Versuch einer Phänomenologie (Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch, 1994).
2. Michele Serra, Die Liegenden, übersetzt aus dem Italienischen von Julika Brandestini (Zürich: Diogenes, 2014).
3. Badische Zeitung vom 11. Januar 2019, S. 3.
4. Monique Scheer, ‘Emotionspraktiken: Wie man über das Tun an die Gefühle herankommt’, in Emotional Turn?! Europäisch ethnologische Zugänge zu Gefühlen & Gefühlswelten, herausgegeben von Matthias Beitl und Ingo Schneider, Buchreihe der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde, Neue Serie, 27 (Wien: Selbstverlag des Vereins für Volkskunde, 2016), S. 15–54.
5. Edward P. Thompson, ‘Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus’ (1967), in Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, von Edward P. Thompson, ausgewählt und eingeleitet von Dieter Groh (Frankfurt am Main: Ullstein, 1980), S. 34–66.
6. Apple Watch Series 4, Ganz neu. Für dein besseres Ich, https://www.apple.com/de/apple-watch-series-4/?afid=p238%7CsgO0Aww6R-dc_mtid_20925oze42631_pcrid_295721136696_&cid=wwa-de-kwgo-watch-slid—apple+watch-e-productid- [22.01.2019]
7. Text und Melodie stammen aus der Feder des Magdeburger Musikpädagogen Johann Jakob Wachsmann (1791–1853), dessen Vater Kantor war.
8. Die drei kurzen Strophen: »Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, dann bleibe ich zu Haus. Ich binde eine Schürze um und feg die Stube aus. | Das Essen kochen kann ich nicht, dazu bin ich zu klein. Doch Staub hab ich schon oft gewischt. Wie wird sich Mutti freun! | Ich habe auch ein Puppenkind, das ist so lieb und fein. Für dieses kann ich ganz allein die richt’ge Mutti sein.« Melodie und Text: Kurt Schwaen (1909–2007).
Interessanterweise firmieren viele Diskussionen um Frauenarbeit, Geschlechterverhältnisse und Erziehungsmodelle in der DDR unter der dem Titel des Liedes. Ihn wählten auch die Bürgerrechtlerin Freya Klier und ihre Tochter, die Fotografin und Filmproduzentin Nadja Klier, für einen Film, den sie 2017 den Frauen in der DDR widmeten.
9. Nationalhymne der DDR (1949), Melodie: Hanns Eisler (1898–1962), Text: Johannes R. Becher (1891–1958) https://de.wikipedia.org/wiki/Auferstanden_aus_Ruinen [24.01.2019]
10. Meinen Basler Kolleginnen Theres Inauen und Véronique Hilfiker danke ich für den Hinweis und entsprechende Erklärungen. Constantin Langbein verdanke ich Einsichten in ein Rechtsinstitut.
11. Bernd-Jürgen Warneken, ‘Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang. Körpersprache und bürgerliche Emanzipation um 1800’, in Der aufrechte Gang. Zur Symbolik einer Körperhaltung, herausgegeben von Bernd Jürgen Warneken und Anke Blashofer-Hrusa, (Tübingen: Ludwig-Uhland-Institut für Kulturwissenschaft der Universität Tübingen, 1990), S. 7–23.
12. Bernd Jürgen Warneken, ‘“Aufrechter Gang”. Metamorphosen einer Parole des DDR-Umbruchs’, in Mauer-Show. Das Ende der DDR, die deutsche Einheit und die Medien, herausgegeben von Rainer Bohn, Knut Hickethier und Eggo Müller (Berlin: Sigma Bohn, 1992), S.17–30.
13. Melodie (1888): Pierre Degeyter (1848–1932), französischer Originaltext (1871): Eugène Pottier (1816–1887); deutscher Text (1910): Emil Luckhardt (1880–1914).
14. In diesem Zusammenhang sei auf die Beiträge von Ute Planert, Iris Koch, Marc Schauecker und Bernd Jürgen Warneken in dem bereits erwähnten Sammelband Der aufrechte Gang (1990) verwiesen. Diese wenden sich Techniken des Aufrichtens im Militär und im Faschismus zu.
15. Übergangsgesetzlich gab es seit dem 20.09.1945 in Deutschland keine Standgerichte mehr, verfassungsrechtlich ab 23.05.1949. Zu diesem Zeitpunkt wurde die neue Verfassung eingeführt, welche die exekutive Menschentötung verbietet.
16. ‘Strassenmusik und Strassenkunst – Was es braucht, bevor was abgeht’, Rubrik Was tun wenn?, http://www.polizei.bs.ch/was-tun/bewilligung-einholen/strassenmusik.html [18.01.2019]
17. Steffen Schenk, Sitzen im öffentlichen Raum. Die soziologische Aneignung einer Haltung, Masterarbeit im Fach Soziologie (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, 2014). https://www.freidok.uni-freiburg.de/data/9499 [23.01.2019]
18. Autorenkollektiv des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, drei Bände, erarbeitet von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer (Berlin/Ost: Akademie-Verlag, 1989), hier: 3. Band (Q–Z), S. 1690, 1700.
19. Artikel ‘Eckensteher Nante’, https://de.wikipedia.org/wiki/Eckensteher_Nante [18.01.2019]. Vollständiger Text auf Volksliedarchiv (Bremen: Müller-Lüdenscheidt-Verlag): https://www.volksliederarchiv.de/det-beste-leben-hab-ick-doch-eckensteher-nante/ [18.01.2019]
20. Vgl. Rolf Lindner, Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung (Frankfurt am Main, New York: Campus, 2004); Johanna Rolshoven und Justin Winkler, ‘Auf den Spuren der schönen Pendlerin. Über Kommen und Gehen in der Nachmoderne’, Kuckuck. Notizen zur Alltagskultur 1/2008, S. 9–13; Johanna Rolshoven, ‘Gehen in der Stadt’, in Gehen in der Stadt. Ein Lesebuch zur Poetik und Rhetorik des städtischen Gehens, Cultural Anthropology Meets Architecture, 2 (Weimar: Jonas, 2017), S. 95–111; Michael Massmünster, Im Taumel der Nacht. Urbane Imaginationen, Rhythmen und Erfahrungen (Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2018).
21. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, zwei Bände, herausgegeben von Rolf Tiedemann (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982), hier: Band 1, S. 525.
22. Vgl. Barbara Lang, Unter Grund. Ethnographische Erkundungen in der Berliner U-Bahn, Studien & Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 14 (Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 1994); Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900 (Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2009).