Rolf Lindner
“Diese Straßenlümmel gehen derart in ihrer Tätigkeit auf”, heißt es am 2. August 1856 in Leslie’s Illustrated Weekly Newspaper über die Zeitungsjungen, “daß sie ihre Ausrufe entlang eines ganzen Wohnblocks, dessen Häuser geschlossen sind, beibehalten, obwohl kein potentieller Kunde in Sicht ist” 1. Zeitungsjungen gehörten im späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu den genuinen urban types, Geschöpfe der Großstadt, die zugleich zu ihren ikonischen Exemplaren wurden. Ihre Ausrufe, die die Notwendigkeit des Broterwerbs mit dem Vergnügen am Lärmen aufs glücklichste vereinen, gehören zu den als großstadtspezifisch wahrgenommenen Reizen, ein urban sound, wie wir heute sagen würden. Wie ikonisch die Zeitungsjungen waren, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sie bereits am Anfang der Straßenfotografie zu ihrem Objekt wurden: der Polizeireporter Jacob Augustus Riis nahm sie bereits in den 1890er Jahren auf. Was Zeitungsjungen zu urban types macht, ist vor allem ihre Beweglichkeit, die sie zugleich sichtbar macht: sie durchstreifen den urbanen Raum, frühe Praktiker des dérive, wenn man so will. Eine andere, durchaus verwandte Erwerbsmöglichkeit, die mit der frühen Nachrichtentechnologie verbunden war, war die des Telegrammboten, eine außerordentlich moderne großstädtische Erscheinung. Lewis Hine, der große amerikanische Sozialfotograf des frühen 20. Jahrhunderts hat neben den Zeitungsjungen auch die Botenjungen abgelichtet und damit dazu beigetragen, sie der Öffentlichkeit als exemplarische Großstadtfiguren zu vermitteln. Der Telegrammbote war am Anfang des 20. Jahrhunderts der exemplarische Botenjunge, in den USA als telegraph boy, den UK als telegram messenger bezeichnet.
Abbildung 1: “Newsies smoking at Skeeter’s Branch, St. Louis, Missouri,” by Lewis W. Hine May 9, 1910.2
Diese Telegrammboten, meisten zwischen 14 und 18 Jahren alt, waren zunächst in der Großstadt zu Fuß unterwegs und/oder benutzten die großstädtischen Verkehrsmittel wie Busse und Trams, mit denen die Telegraphiegesellschaften Vereinbarungen geschlossen hatten, denen zufolge die Boten die Verkehrsmittel kostenlos nutzen konnten. Erkennen konnte man die Boten an ihrer Uniform, einer bestimmten, auf das Unternehmen (zumeist Western Union) hinweisende Mütze sowie einer Art Uniformjacke, die ihnen einen militärischen Anstrich gaben. Diese Kleidung sollte die Jungen nicht nur erkennbar machen (und damit dem Branding der Western Union dienen), sondern auch disziplinieren. Deutlich wird dies am Schaubild des “Correctly Uniformed Western Union Messenger”, das zeigt, wie sich ein Bote der Western Union halten und verhalten sollte, von korrekter Frisur bis zu den glänzenden Stiefeln. In ihren Uniformen waren sie im städtischen Raum leicht beobachtbar und damit kontrollierbar; benahmen sie sich korrekt, hielten sie ihre Touren ein; vertrödelten sie ihre Zeit.
Abbildung 2: “Richard Pierce, Western Union Telegraph Co. Messenger No 2. 14 years of age. 9 months in service, works from 7 a.m. to 6 p.m. Smokes and visits houses of prostitution. Wilmington, Del.”, by Lewis W. Hine, 1910.3
Abbildung 3: Correctly Uniformed Western Union Messenger, o.J.
Abbildungen 4 und 5: Chiricahua-Apachen vor und vier Monate nach ihrer Ankunft in der Carlisle Indian Industrial School, Florida, im Jahr 1886. Sie waren zunächst nach Fort Marion gebracht worden, nachdem sich die Häuptlinge zusammen mit etwa 130 Männern, Frauen und Kindern der Armee der Vereinigten Staaten ergeben hatten. Die Jugendlichen erhielten nach Aufnahme in der Industrial School englische Namen; so wurde z.B. aus Ki-ah-tel Beatrice, aus Se-an-il-zay Clement. (Museum Ludwig 2018) Auch die Messenger Boys sollten leichter identifizierbar sein und wurden nicht nach ihren Namen genannt, sondern erhielten Nummern zugewiesen. Quelle: Denver Library4
Die Uniform mußte übrigens von Western Union gemietet und von den Nutzern sauber gehalten werden, “a duty that was relegated to the mothers of the messengers”, wie es lakonisch in Downeys Studie “Telegraph Messenger Boys” heißt (Downey 2002, S. 63). Wir können in der Uniformierung durchaus einen Akt der Zivilisierung bzw. Domestizierung des Straßenjungen sehen. Soweit ich sehe, ist die Domestizierung durch quasi-militärische Einkleidung in den USA erstmals an indigenen Jugendlichen vollzogen worden.
Anschließend wandte man sich der sog. delinquenten Großstadtjugend als Disziplinarobjekt zu. Im Klassiker der Chicago-Soziologie “The Gang” von Frederic M. Thrasher wird die erfolgreiche redirection der Jugendlichen in vorher-nachher–Manier bildlich vorgeführt: aus der Gang ist eine Brigade geworden (vgl. Thrasher 1968, S. 201). Auch in Großbritannien trugen die Telegrammboten Uniform und waren einem strengen, militärischen Drill unterworfen. “Wearing as they do the uniform of the Queen”, heißt es in einer Erklärung des Post Office aus dem Jahre 1897, “they are under obligation to conduct themselves in a manner which shall never bring that uniform into disrepute”. Wie populär der amerikanische Telegrammbote als großstädtische Erscheinung war, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass er schon früh, nämlich um 1910, zum Helden einer Heftchenreihe wurde: “Roy, the Western Union Telegraph Messenger”.5 Der uramerikanische Mythos vom Tellerwäscher zum Millionär wird auch anhand der Figur des Telegraph Boy durchgespielt und das im wortwörtlichen Sinne: bereits 1886 kommt ein Brettspiel auf den Markt “Game of the Telegraph Boy, or Merit Rewarded” (Abbildung S. 246), bei dem der Gewinner vom Botenjungen zum Präsidenten der Telegraphengesellschaft aufsteigen kann.6 Das Spiel in einer opulenten Holzbox war allerdings so teuer, dass gerade die, die gemeint waren, sich das Spiel nicht leisten konnten.
Abbildung 6: Game of District Messenger Boy, or Merit Rewarded, McLoughlin Bros. 1886.7
Telegraph Boys waren in der ganzen Stadt unterwegs, darin lag nicht zuletzt der Reiz des Jobs für diejenigen, die ihn betrieben. Durch ihre assignments, die konkreten Aufträge wurden sie, ganz ähnlich wie die frühen Reporter, zu Experten der Großstadt. Wie die Reporter hatten sie ihre runs, ihre Stadtgebiete und entwickelten mit der Zeit mental maps von Vierteln und Straßen, die ihnen die schnellste Route versprachen. Waren sie tagsüber vor allem im business district unterwegs, wobei in New York die Wall Street schon früh zu einer Art Hauptquartier wurde, so war es durchaus üblich, dass sie sich nachts in den Rotlichtbezirk der Stadt begeben mußten8 – was die Jugendschützer auf den Plan rief und ein Grund dafür war, dass es keine Telegraph Girls gab.9 Um 1900 wurde aus dem Telegraph Boy, der die Stadt zu Fuß durchmisst, der Fahrradkurier, eine Neuerung, die nicht nur den Prozeß der Auslieferung des Stückguts (Briefe, Dokumente, Päckchen) beschleunigte, sondern auch den Status der Boten veränderte: vom Läufer zum Artisten des Zweirads. Das machte die Boten zurecht stolz auf ihren Job und brachte ihnen Prestige unter den Altersgenossen ein.
Abbildung 7: “Messenger boy working for Mackay Telegraph Company. Waco, Texas. ‘Said fifteen years old. Exposed to Red Light dangers,’” by Lewis W. Hine, September 1913.
Ökonomisch blieb zwar alles beim Alten: sie mußten die Räder von Western Union mieten und auf eigene Kosten in Schuß halten. Kulturell aber kam mit dem Rad eine neue Komponente von bravery, Wagemut und coolness hinzu, eine Gelassenheit, die als Teilaspekt der dem Großstädter zugeschriebenen emotionalen Indifferenz anzusehen ist.10
Bis in die frühen 1950er Jahre waren Telegrammboten in den Großstädten der westlichen Welt präsent, dann aber verloren sie aufgrund der wachsenden Verbreitung des Telefons auch in Privathaushalten rapide an Bedeutung. Das war in Ost-Berlin, wegen der geringen Verbreitung von Privattelefonen, noch in den 1980er Jahren anders; dort besorgte man die Zustellung auch noch zu Fuß. Dort war die Tätigkeit als Telegrammbote unter Künstlern, die gegenüber den Behörden einen Job nachweisen mußten, um nicht als asozial zu gelten, weit verbreitet.
Der bekannte Fotograf Harald Hauswald sagte dazu in einem Interview: “Als ich damals (in den 70er Jahren, R. L.) nach (Ost-)Berlin kam, habe ich erst mal als Telegrammbote angefangen… Dabei habe ich natürlich das pure Leben gesehen, auf der Straße. Wir waren bis zu vier Stunden täglich zu Fuß unterwegs, wir sind durch den ganzen Prenzlauer Berg gelaufen. So haben viele angefangen; Schriftsteller und Maler, die ich kenne, haben alle als Telegrammboten gearbeitet”.
Die Straße als Kunstakademie.
Endnoten
1. Das Zitat habe ich erstmals als Einstieg in meiner Monographie über die Chicago-Soziologie “Die Entdeckung der Stadtkultur” verwendet. Ich bitte um Verständnis für dieses Eigen-Plagiat.
2. Retrieved at Monovosions, Black and White Photography Magazine, <https://monovisions.com/wp-content/uploads/2017/04/vintage-american-child-laborers-by-lewis-hine-1900s-1910s-15.jpg> [accessed 2019-04-14]
3. Retrieved at https://external-preview.redd.it/U6iaVUg7b16O_nZjs_uhrmPGYb6qO Iv41iO1HJccl_o.jpg [2019-04-14]
4. <http://digital.denverlibrary.org/cdm/ref/collection/p15330coll22/id/36689>
5. Die intensive PR-Tätigkeit der Western Union läßt vermuten, daß die Heftchenreihe von dem Unternehmen finanziert wurde.
6. Das Spiel könnte von Horatio Algers Roman “The Telegraph Boy” aus dem Jahre 1879 inspiriert worden sei, wo es der Bote zum Präsidenten bringt. Alger gilt als Erfinder der rags-to-riches-Story. In der Spielanleitung heißt es: “The object od the game is to see which player can most quickly rise from the position of Messenger Boy to that of President of the Company”. Der Stahltycoon Andrew Carnegie soll angeblich in seiner Jugend als Messenger Boy gearbeitet haben. Aber vielleicht ist auch das Teil der Legende.
7. New York Historical Society, <https://www.nyhistory.org/exhibit/game-district-messenger-boy-or-merit-rewarded-0> [accessed 2019-04-14]
8. Gregory Downey verweist in seiner Studie über den Messenger Boy darauf, dass sich Boten, die in Redlight Districts geschickt wurden, als escorts für Touristen etwas hinzu verdienten.
9. Während des Ersten Weltkriegs wurden sowohl in Großbritannien als auch im Deutschen Reich Mädchen und junge Frauen als Kuriere eingesetzt.
10. Der Mythos vom unerschrockenen Kurier mit dem coolen Image wird noch heute von Pizza-Auslieferern gepflegt. Der Lieferservice Delivery Hero spricht dieses Image direkt an. Es soll wohl als Kompensation für die geringe Entlohnung herhalten: high risk, low pay.
Literatur
Downey, Gregory. J. 2002. Telegraph Messenger Boys: Labor, Technology, and Geography, 1850-1950 (New York: Routledge).
Fincham, Ben. 2006. ‘Back to the “old school”: bicycle messengers, employment and ethnography,’ Qualitative Research 6(2), pp. 187-205.
Fincham, Ben. 2008. ‘Balance is Everything: Bicycle Messengers, Work and Leisure,’ Sociology 42(4), pp. 618-634.
Lindner, Rolf. 1990. Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage (Frankfurt: Suhrkamp).
Museum Ludwig. 2018. ‘Kill the Indian, Save the Man: Siedlungskolonialismus und Dokumente der Transformation von der Carlisle Indian Industrial School,’ Museum Ludwig Blog, <http://blog.museum-ludwig.de/2018/12/19/fotografie-und-grenzkolonisation-die-chiricahua-apachen-an-der-carlisle-indian-industrial-school> [accessed 2019-04-14]
Thrasher, Frederic M. 1968. The Gang (Chicago: University of Chicago Press).