Monika Litscher
Die Ausgangslage ist vertraut. Der gegenwärtige gesellschafts-, wirtschafts- und universitätspolitische Kontext macht viele, so auch mich, unzufrieden. Warten und aussitzen scheint keine Lösung. Es stellen sich grundsätzliche Fragen: Wie kommt es, dass die Wissenschaften in einer defensiven Lage sind? Welche Aktionen sind seitens der ›Humanities‹ möglich und nötig? Wie kann ich als Kulturwissenschaftlerin und Ethnologin dazu beitragen, dass fundierte Erkenntnis, Reflexion und Wahrheitssuche (wieder) stärker anerkannt werden, als Visionen inspirieren, zu Handlungen führen sowie laufende und anstehende Transformationen massgeblich mitprägen?
Unter den Begriff der Humanities subsumiere ich an dieser Stelle etwas salopp Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Dabei betone ich ihre Gemeinsamkeiten, ohne ihre Eigenheiten und Unterschiedlichkeiten zu negieren (SAGW 2016). Humanities agieren in diesem Sinne als heterogene Fachbereiche im akademischen und künstlerischen Kontext, fokussieren forschend und vermittelnd diverse vielgestaltige Verwicklungen von Mensch-Mensch-Ding-Umwelt. Sie engagieren sich wissenschaftlich, künstlerisch, manchmal auch gesellschaftspolitisch und aktionistisch innerhalb und ausserhalb von Academia. Traditionell bergen sie viel kritisches Potential, das unter anderem zur Entwicklung der Gesellschaft und zur Befähigung zu mündigen und aufgeklärten, handlungsfähigen und gestaltungswilligen Menschen beitragen soll und kann. Einige Stimmen, wie etwa Jacques Derrida, verorten, im Anschluss an Michel Foucault und Immanuel Kant, bei den Humanities sogar die Zukunft der Kritik und den »ultimate place of critical resistance« (2002, 204). Ob und wie solche Kritikfähigkeit wirken kann, wird und muss derzeit allerdings in Frage gestellt werden.
Dolomiten 2016, Foto: (C) Litscher
Widrige Umstände
Mein Unmut gilt an dieser Stelle nicht der pauschalen Verurteilung einer materiell wohlhabenden Gesellschaft, eines Staats mit einer meist gewährleisteten Gewaltentrennung, den noch verbrieften Grund- und Freiheitsrechten, dem unter anderem derzeit noch durch Erwerbsarbeit finanzierten Sozialsystem, der meist staatlich minimal organisierten Gesundheits- und Bildungsversorgung und der einigermassen intakten Infrastruktur. Wohl wissend, dass all diese derzeit etwas fragil anmutenden Errungenschaften der reichen Industriestaaten einer Erneuerung bedürfen und in einem offensichtlich mangelhaften System angesiedelt sind. Ferner im Bewusstsein, dass sich diese Privilegien ausbeuterisch auf Kosten anderer und der Umwelt etablieren konnten und, dass dabei strukturelle und soziale Ungleichheit in einem globalen und lokalen Macht- und Herrschaftsgefüge hervorgebracht und aufrechterhalten wurde respektive wird. Vielmehr plädiere ich für konkretes Handeln und Widerstand gegen die jüngsten Entwicklungen. Denn zu den skizzierten Problemen und Herausforderungen, die selbstredend voller Komplexitäten und verzwickter Widersprüche sind, kommen inzwischen fast tagtäglich omnipräsente menschen- und gesellschaftsfeindliche Äusserungen und Entwicklungen hinzu, die den Grundhaltungen unter anderem der Humanities diametral entgegenstehen. Sie stehen meist im Zeichen der totalen, globalen Durchdringung durch eine hemmungslose Wirtschaft. Auf diese Weise zeigen sie freilich deutlich deren Schwächen und den dringenden Erneuerungsbedarf der systemischen Rahmen.
Wirkungsmacht von Wissenschaft
Die Rolle von Wissenschaft ist gegenwärtig in Kontexten der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik verschwindend klein. Es gelingt trotz Unterschieden weder den Natur- noch den Kultur- und Geisteswissenschaften, sich Gehör für ihre prominenten Anliegen zu verschaffen und ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in wirkmächtige, politische Handlungen zu überführen. Davon zeugen seit Jahren etwa fehlende, geringe und zahnlose Aktionen gegen Klimawandel, Umweltzerstörung, Erosion demokratischer Systeme, repressive Migrationsregime, Rückbau von Grund- und Freiheitsrechten. Global steigender materieller Wohlstand kann darüber nicht hinwegtäuschen. Einzig die Wirkungsmacht der Wirtschaftswissenschaften scheint derzeit (noch) relativ gross. Doch spätestens seit der Bankenkrise 2008 ist auch sie am Schrumpfen.
Die strukturelle Funktionsstörung und die Mängel des ökonomischen Systems, das heisst das Eigeninteresse an Profitstreben, persönlichem Gewinn und die Externalisierung der Kosten basierend auf imperialen Macht- und Herrschaftsstrukturen bleiben inzwischen auch der breiteren Öffentlichkeit nicht länger verborgen. Der Unmut wächst. Es bleibt bislang zwar oft noch bei diffuser Systemkritik und Unbehagen gegenüber wirtschaftspolitischen Zugeständnissen. Damit entsteht zum einen Empfänglichkeit für schnelle und vermeintlich einfache Lösungen oder Sündenböcke; zum andern wird damit verbunden eine Ablehnung des gegenwärtigen wirtschaftlichen Treibens, die mitten ins Gros der Wirtschaftswissenschaften trifft. Die tertiären Ausbildungsstätten werden folglich zusehends als Mitverantwortliche gesehen, da die Studienabgängerinnen und Studienabgänger dort entsprechende Fähigkeiten erwerben oder eben nicht erlangen. Es kann nachdrücklich soziale Ungleichheit seitens Wirtschaftswissenschaften nicht länger ignoriert werden.
An diesem Punkt kommen denn auch die Humanities ins Spiel. Sie werden dann gebraucht, um diesen Studierenden zusätzliche, den Wirtschaftswissenschaften nicht inhärente Werte und Fähigkeiten zu vermitteln, die gesellschafts- und zukunftsfähig sind. Wird nämlich den Postulaten von Zukunftsforschenden, Arbeitsmarktspezialistinnen und -spezialisten sowie den Rankings von Think Tanks um notwendige ›Skills‹ der Zukunft Glauben geschenkt, müsste seitens der Wirtschaftswissenschaften seit einigen Jahren ein regelrechter Ansturm auf Humanities stattgefunden haben und deren Stellenwert massiv angestiegen sein. Gerade letzteres ist bekanntlich eher nicht der Fall. Stattdessen werden genau die Fähigkeiten, des gleichberechtigten Zusammenarbeitens und das Potential der Kritik und des Hinterfragens gefürchtet. Martha Nussbaum konstatierte vor knapp zehn Jahren:
“But educators for economic growth will do more than ignore the arts. They will fear them. For a cultivated and developed sympathy is a particularly dangerous enemy of obtuseness, and moral obtuseness is necessary to carry out programs of economic development that ignore inequality. It is easier to treat people as objects to be manipulated if you have never learned any other way to see them.” (2010, 42)
Die Wirtschaftswissenschaften wissen (oder ahnen) somit zwar um inhaltliche und strukturelle Mängel ihrer Disziplin und ihrer Hochschulbildung. Noch sind sie im aktuellen Macht- und Herrschaftsgefüge handlungsfähiger als die Humanities. Doch behaupten konnte sich in diesem Gefüge in den letzten Jahren keine wissenschaftliche Disziplin, höchstens an wirtschaftlichem Gewinn getriebenes privatwirtschaftliches Interesse und Politik. Vielmehr positionieren sich viele wirkungsmächtige Akteure derzeit prominent äusserst wissenschaftsfeindlich. Ihr Handeln tangiert inhaltlich alle Lebensbereiche: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Bildung. Es bringt zudem eine Verschärfung der Tonalität in Diskursen und Debatten, konstruiert damit rigide Grenze gegen mögliche Entwicklungen einer zukunftsfähigen und offenen Gesellschaft und verhindert eine nachhaltige Transformation des herrschenden Systems.
Im Kern geht es bei diesen rückwärtsgerichteten Grenzziehungen um grundlegende Fragen des Sinns, um die Suche nach dem guten, glücklichen Leben, soziale Interaktion und Gemeinwohl, Willen zur Gestaltung der Zukunft und, damit um nicht weniger als den Fortschritt des Systems und den Zuschnitt der Gesellschaft. Drängend wird die Diskussion all dieser Fragen wegen der laufenden und anstehenden technologischen Veränderungen und der zusehends durchdringenden digitalen Vermessung. Diese werden seit einigen Jahren industriegetrieben, von machtvollen Figuren und mit ihren privatwirtschaftlichen kontrollierten Unternehmen herbeigeführt. Die damit verbundenen Prozesse sind selten transparent. Sie führen sukzessive zu systemischen Transformationen und agieren oft als »smarte Diktaturen« (Welzer 2016). Bisweilen zielen sie gar in Richtung eines Trans- und Posthumanismus. Technik wird in diesen Prozessen (meist) wenig hinterfragt als Wachstumsgenerator akzeptiert und vorbehaltslos als eine Black Box ohne eine Berücksichtigung sozialer Dimensionen eingesetzt und befürwortet. Zentrale Fragen zu einer menschlichen und zukunftsfähigen Gesellschaft, werden (bisher) kaum, und wenn, nicht in einem transparenten, mehrstimmigen oder gar demokratischen politischen Diskurs erörtert, und, ebenso selten wird jenseits eines schieren Funktionierens nach kapitalistischer Logik und jenseits des jetzigen Systems gedacht.
Diffizile Verhältnisse: Wissenschaft – Universität – Gesellschaft
“Can computer-based educational technologies, such as distance learning, replace the University as the real Place, the community of collaborators and interlocutors?”
“What makes the University different from a shopping mall, a commercial center for buyers of diplomas and professions?
“These two questions are interconnected and, in fact, call for a single answer. The university is neither an informational network nor an intellectual supermarket; the university is a humanistic institution. Its purpose is to educate humans by humans for the sake of humanness. The technologization or commercialization of education would fundamentally undermine the dialogical nature of the humanities as the thematic and methodological core of the university curriculum.” (Epstein 2012, 291)
Für den schwierigen Stand der Wissenschaften ist die Institution Universität mitverantwortlich. Sie ist unbestritten renovationsbedürftig, sei dies in Bezug auf ihren starren, hierarchischen Aufbau, männlich-paternalistisch geprägte Dominanz und Nachwuchsförderung in einer undurchsichtigen Meritokratie, prekäre befristete und ausbeuterische Anstellungsbedingungen. Dazu kommt das ökonomische Diktat, das selbstverständlich auch Bildung und Universität längst erfasst hat. Der Wissenschaftsbetrieb, Forschung und Lehre folgen inzwischen ohne grossen Widerstand der Verwertungslogik.
So wird in Academia bei fast allen Unterfangen der Humanities die Frage nach deren Nutzen, ›Employability‹ und Anwendungsorientierung gestellt, oft lediglich einer Verteidigungs- und Rechtfertigungslogik folgend. Dabei können gerade die Erkenntnisse der Humanities selbst nach einem – meiner Meinung nach notwendigen und sinnvollen – Transfer in andere Bereiche kaum mit quantifizierbaren Antworten aufwarten oder ökonomische Anforderung einer direkten Messbarkeit und Verwertbarkeit erfüllen. Interessant ist, dass wohl kaum jemals die milliardenschwere Finanzierung etwa von Teilchenbeschleunigern der Physik in einem der prestigeträchtigen Labors und ihr direkter Nutzen in solcher Schärfe infrage gestellt oder verteidigt wird, ebenso wie die Ergebnisoffenheit von naturwissenschaftlicher Forschung, die wohl jeder genuinen Forschung inhärent ist, als untragbares Risiko oder gar als Grund für die Abschaffung einer ganzen Disziplin ins Feld geführt wird. Das zeigt, wie es um den Stellenwert der Humanities bestellt ist, aber auch, wie viel welche Wissenschaft, welche universitäre Bildung und Forschung noch kosten darf, oder eher, wie viel unserer Gesellschaft welche Wissenschaft, darunter die Humanities, noch wert sind.
Das gegenwärtige Verhältnis von Universität zu Gesellschaft ist dabei keineswegs geklärt und jede Infragestellung tangiert alle akademischen Disziplinen. Es ist wohl in den letzten Jahren etwas vergessen gegangen, dass Universität im Sinne von Wilhelm von Humboldt als ein Ort der Bildung verstanden werden soll. Dabei steht Academia mit ihrer Freiheit der Forschung und Lehre immer im Dienst der Gesamtgesellschaft. Sie kann folglich weder an rein ökonomischen ad hoc-Verwertungen und ›Shareholder Value‹ gemessen werden, noch sich ausschliesslich in den Dienst der Wirtschaft stellen. Es gelten Integrität, ethische Standards, Vertrauen und Fairness nicht nur der Gesellschaft, sondern auch den Universitäten als Ziele. Nur mit diesem Bewusstsein und im Sinne des Gemeinwohls kann eine Verbindung zwischen Academia und Gesellschaft wiederhergestellt, gestärkt und auf Augenhöhe entwickelt werden. Die Humanities sind mit ihrer genuinen Ausrichtung auf Gesellschaft, mit ihrem kreativen Denken und mit ihren humanistischen Interventionen ausdrücklich gefordert. Sie sind gar unerlässlich und müssen als Teil der Universität die Zukunftsgestaltung und das Verhältnis zwischen Universität und Gesellschaft aktiv mitgestalten. Für das Gelingen eines solchen Unterfangens, gilt es die interuniversitären wissenschaftlichen Disziplinen und Rang- respektive Hackordnungen neu zu ordnen, starre fachliche Grenzen zu überwinden und die Universität als einen dynamischen Grenzraum mit all seinen zusammenspielenden strukturellen, physischen, gesellschaftlichen, gelebten und wahrgenommenen sowie imaginierten, symbolischen Dimensionen zu verstehen. Gerade die raumaffinen Kulturwissenschaften könn(t)en dabei souverän neue kulturelle Ordnungen mitgestalten und verändern, um jenseits eines dichotomen Drinnen und Draussen zu agieren. Dass, dabei auch kritisch konkrete Fragen zu Identitäten, Differenz und zu Struktur diskutiert sowie gewisse homogenisierende Effekte im Inneren erzielt werden unter anderem zur Aufrechterhaltung bestimmter wissenschaftlicher Grundhaltungen, scheint sinnvoll und ergiebig (in Anlehnung an das Grenzverständnis von Michel Foucault 1991, 37).
Humanities für Humanities in Wert setzen
Innerhalb von Academia ist respektive gerät der Stellenwert der Humanities an vielen Universitäten (jenseits einzelner Liberal arts colleges) unter Beschuss. Dabei stellt sich auch die Frage, was Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler nicht oder falsch machen, wenn sie um ihre Existenz und Förderbeiträge kämpfen müssen, ihnen Kürzungen drohen oder diese bereits vollzogen sind. Zum finanziellen Engpass, dem ökonomischen Druck an Universitäten und dem eher tiefen Prestige der Humanities vor allem in wirtschaftspolitischen Kreisen kommt die sukzessive Degradierung zu blossen Service- und Dienstleistungswissenschaften hinzu. Sie trifft philosophische Fakultäten und besonders Lehrstühle und Professuren, die an fachfremden Fakultäten unter anderem der Wirtschafts- und Naturwissenschaften, der Architektur und des Designs angesiedelt sind. Je nach Ausgangslage wird den Humanities dann vielleicht noch eine gewisse, Integrität und bisweilen gar transformatives Potential als Erweiterung des jeweiligen Kernstudiengangs im Sinne der Kontextualisierung oder als Orientierungswissenschaften zugestanden. Bisweilen werden Humanities schlichtweg von dominierenden Bereichen einverleibt und ihre Forschungs- und Lehrtätigkeiten werden nebenbei unter anderen Vorzeichen von der entsprechenden Fachschaft übernommen. Dabei bin ich keineswegs gegen neue Formen der Vermittlung, unkonventionelle Lehr-Lern-Kollaborationen, abwechslungsreiche Präsentation und modernere Themensetzungen oder gegen Forschungskollaborationen mit unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren. Im Gegenteil, es liegt, wie in allen Bildungsbereichen, sicherlich auch bei den Humanities einiges im Argen und somit einiges an Potential brach, das ausprobiert werden soll, kann und muss.
Fast schon etwas schicksalhaft mutet es allerdings an, wie wenig die kanon- und fachimmanenten Qualitäten unter anderem Verstehen, kritisches Denken, Differenzieren, Hinterfragen, kreatives Agieren, offenes Herangehen, kontextuelles Situieren, Umgehen mit anderen Disziplinen und Kulturen, innerhalb der Humanities und des universitären Rahmens überzeugen können. Seit der fakultätskulturellen Zweiteilung der 1970er Jahre in Geistes- und Naturwissenschaften scheinen die Humanities überwiegend Gestaltungsmacht und -wille verloren zu haben (siehe Litscher 2016). Es gab bis vor kurzem kaum eine explizite thematische Ausrichtung auf Fortschritt, Zukunft und Transformation, geschweige denn eine aktive Aufforderung an die Humanities, an entsprechenden wirkmächtigen Diskussionen auf Augenhöhe teilzunehmen. Es fehlte über Jahre weitestgehend eine kritische Auseinandersetzung jenseits des Blicks in die Vergangenheit – der selbstredend für das Verstehen der Gegenwart sehr bedeutsam und für die Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft massgeblich ist — auf gesellschaftliche Entwicklungen etwa bezüglich Folgen der Globalisierung, digitaler Durchdringung und technologischer Entwicklungen. Ebenso schmal fällt denn auch bislang eine Auseinandersetzung mit der eigenen Neuausrichtung und eine vernetzt orchestrierte Neupositionierung aus. Darüber vermögen die einzelnen Forschungen und Figuren, die wenigen in den letzten Jahren verfassten Positionspapiere (zum Beispiel SAGW 2016) und die jüngst lose organisierten Verbünde (zum Beispiel Initiative THoR) nicht hinwegzutäuschen. Zu diesem Manko kommen immer wieder Grabenkämpfe einzelner, egozentrischer Figuren innerhalb und zwischen einzelnen Fachbereichen der Humanities hinzu, die unrühmlich in Diskussionen zu Identitätspolitik und Machterhalt meist in kulturalistischer Manier medial und politische instrumentalisiert werden (unter namentlich in der Neuen Zürcher Zeitung). Es schien (und scheint) zudem seitens der Humanities oft verpönt zu sein, die eigenen Qualitäten kritisch, wirkungsorientiert, aber trotzdem in einem Zusammenhang des In-Wertsetzens innerhalb des herrschenden Systems als Argumentarien n gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Grundsatzdiskussionen um Bestand, Ausrichtung und Entwicklung einzubringen.
Spätestens seit der Veröffentlichung von Martha Nussbaums Plädoyer von 2010 wird, zwar aus einer teilweise etwas larmoyant anmutenden Verlust- und Defensivhaltung heraus, der laufende und drohende Untergang der Humanities von einer breiteren Öffentlichkeit registriert und thematisiert. Dank ihrem Plädoyer »Not for profit« (2010) werden den Humanities und der Wegrationalisierung humanistischer Bildung an Schulen und Universitäten weltweit Aufmerksamkeit geschenkt. Nussbaum zeigt eindrücklich die Stärken der Humanities und deren Zusammenhänge mit den demokratischen Werten einer offenen Gesellschaft auf, sie weist auf, was mit ihrem Niedergang verlustig gehen wird und inwiefern auch das wirtschaftliche Leben davon betroffen sein wird. Bei Schliessungen von Abteilungen werden nämlich nicht nur Personen, sondern auch Ideen und Gedanken davongejagt. Mit Martha Nussbaum gesprochen:
“The humanities and the arts are being cut away in both primary/secondary and college/university education, in virtually every nation of the world. Seen by policy-makers as useless frills, at a time when nations must cut away all useless things in order to stay competitive in the global market, they are rapidly losing their place in curricula, and also in the minds and hearts of parents and children.” (2010, 21)
Reflexion und Kritik finden dann immer weniger Gehör und sind immer weniger selbstverständlich. Mutmassliches Potential und Qualitäten werden niemandem mehr gefährlich, allenfalls lassen sich zurechtgestutzte Häppchen noch nach Bedarf als kleine Services verwerten. Diese paar Bruchstücke machen deutlich, es geht um mehr als eine Neuordnung von Studiengängen und von Universitäten, es geht um die Transformation von Gesellschaft, und dafür bedarf es auch einer Transformation der Humanities.
Muzeum Susch 2019, Foto: (C) Litscher
Moment der Transformation
Gesellschaftliche Entwicklungen bedürfen zwingend eines utopischen Denkens, das als gemeinsamer Nenner die Gestaltungsmöglichkeiten und Transformationsfähigkeit rahmt. Im wirtschaftlichen Duktus wird selbstverständlich für jedes Unternehmen eine Vision oder ein Leitbild eingefordert. Somit ist konkret ein Beitrag der Humanities zu Entwicklung und Zukunft für Mensch und Gesellschaft gefordert. Es bedarf dafür wohl einer neuen und starken Positionierung. Zudem ist ein breites Wissenschaftsverständnis förderlich, damit Kollaborationen auf Augenhöhe mit unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren aus Wissenschaft, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik eingegangen werden können (Litscher 2016). Solche neuen Bündnisse sind mit eigenem Potential, mit eigener Perspektive und nicht einem Verständnis als Dienstleister für andere Disziplinen zu schliessen. Mikhail Epstein formuliert in seinem Manifesto:
“Before asking society to embrace, once again, the value of the humanities, we should ask ourselves a simple question: what is it in contemporary humanities that holds special value and promise for society?” (2012, 2).
Ich sehe die Möglichkeit, dass auf Bewährtem gebaut, aber notwendigerweise neue Formen in Forschung, Entwicklung und Lehre erprobt werden, die gerade durch solche neuen Kollaborationen auch an Schnittstellen in- und ausserhalb von Academia entstehen, die einen bedeutsamen Baustein im Fundament von Handlungswissen darstellen können. Epstein fordert konkret etwa eine Abkehr von einem ›Close Reading‹ hin zur Öffnung der wissenschaftlichen Praktiken in Richtung eines offenen, sozial engagierten Lesens und Schreibens, das andockt an den Geist des kreativen Denkens und Resonanz in den unterschiedlichen Sphären des einundzwanzigsten Jahrhunderts findet (Epstein 2012, 294). Er schliesst sich mit solchen Ideen der Netzwerkbildung, des Andockens an verschiedene Sphären und der Überschreitung von Grenzen an Bruno Latours (2014) prominente Forderungen an, die ich in den Grundzügen überzeugend finde. Es gibt jenseits dieser Fragmente viele weitere gute Argumente dafür, dass sich Humanities transformieren und als Kollaborateurinnen agieren. Alleingänge sind weder erfolgsversprechend noch nachhaltig. Stattdessen sollen Humanities offensiv in ganz unterschiedlichen Bereichen und Kontexten wirken.
Vergessen wir ob alldem nicht, dass Utopien immer prozesshaft und dynamisch sind. Sie wirken grenzüberschreitend räumlich und zeitlich, sie prägen entscheidend die Jetztzeit und die jüngere Geschichte. Gerade dadurch werden die Ziele der Humanities verkörpert und gelebt.
Literatur
Derrida, Jacques. 2002. ‘Without Condition’, Without Alibi (Stanford CA: Stanford University Press), edited and translated by Peggy Kamuf, Peggy (ed. and trans.) 202-237.
Epstein, Mikhail. 2012. The transformative humanities. A manifesto (London: Bloomsbury).
Foucault, Michel. 1991. Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970. Aus dem Französischen von Walter Seitter (Frankfurt am Main: Fischer).
Latour, Bruno (2014 [2012]). Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen (Berlin: Suhrkamp).
Landfester, Ulrike und Jörg Metelman. 2019. Transformative Management Education. The role of the humanities and the social sciences (New York, London: Routledge).
Litscher, Monika. 2016. ‘Wozu die Geisteswissenschaften?’, in Was wäre Bildung? Festschrift für Klaus Näscher (Schaan: BVD), herausgegeben von Roman Banzer und Hansjörg Quaderer, pp. 141-162.
Nussbaum, Martha C. 2010. Not for Profit: Why Democracy Needs the Humanities (Princeton NJ: Princeton University Press)
SAGW Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (Hg.). 2016. It’s the humanities, stupid! Bern. file:///Users/monikalitscher/Downloads/abouthumanities_d.pdf [abgerufen 2019-03-19]
THoR – Taking the Humanities on the Road, https://thor-takinghumanitiesontheroad.com/about [abgerufen 2019-03-19]
Welzer, Harald. 2016. Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit (Frankfurt am Main: Fischer).