Ueli Mäder
Weder Graz, noch Marseille,
nicht einmal Basel oder Zürich:
Rheinfelden ist ein kleiner Ort,
ein gepflegtes Schweizer Städtchen,
£das seine Abfälle auch an Feiertagen entsorgt.
Wie es sich gehört.
»Aber die Schweiz ist doch ein sauberes Land«, rief mir ein Pariser Polizist entrüstet zu, der 1968 meinen roten Pass kontrollierte und mich von einer Wiese weg wies. »Betreten verboten«, signalisierte ein Schild. »Ja, zu sauber«, antwortete ich. Und dachte: zu »bünzlig«. Heute schätze ich, wie sich die Gemeinde um öffentliche Räume kümmert.
»Der Soziologe schaut wieder weg«
In Rheinfelden habe ich schon gesehen, wie Männer in oranger Kleidung am Sonntag gefüllte Eimer leeren. Sie verkörpern den »Service public« vor Ort. Ihre Dienstleistung ist wertvoll. Würden alle »Kübelmänner« am Wochenende ruhen, dann sähe am Montag der Bahnhof so aus, wie an einem Sonntag früh: mit Papier und Bierdosen übersät. Zum Entsetzen einer älteren Frau. Ich erinnere, wie sie gebannt vor der Abfallwüste steht und den Kopf schüttelt. Offenbar haben Jugendliche stapelweise Gratiszeitungen zu Boden geschmissen; vielleicht unbesonnen, aus Frust oder Lust.
Ich nicke der empörten Frau beim Vorbeigehen zu. »Der Soziologe schaut wieder weg«, ruft sie mir nach. Ich will, bevor der Zug einfährt, noch etwas zum Lesen holen. Das öffentliche Büchergestell auf dem Perron bietet immer wieder Überraschungen. Die Gemeindebibliothek unterhält das ansprechende Sortiment; unbürokratisch, auf Vertrauen basiert. Zur Freude aller, die Bücher ausleihen und austauschen.
Ich behändige »Die Einsamkeit des Langstreckenläufers«. Allan Sillitoe beschreibt einen 17-jährigen, der von einer Strafanstalt aus an einem Marathon teilnimmt und vorne weg läuft. Der Direktor des Gefängnisses feiert sich schon selber. Der Junge bemerkt das und lässt sich vor dem Ziel extra überholen. Er denkt an seine missliche Kindheit und verweigert sich. Selbst destruktiv oder widerständig? Hilft sein Verhalten, trotzige Jugendliche zu verstehen? Sina Stingelin, eine Soziologie-Studentin, erläuterte mir einst, wie progressiv das kollektive Besäufnis konsumistischer Jugendlicher sei, deren Hedonismus das strenge Arbeitsethos frustrierter Alter kritisch kontrastiere.
Im Zug setze ich mich zur erbosten Frau. Sie schimpft zunächst über unflätige Kids. Doch diese täten ihr auch leid, räumt sie alsbald ein. Heute gäbe es keinen Bahnhofsvorstand mehr, der die Leute kenne. Alles sei so anonym. Jugendliche fühlten sich kaum wahrgenommen. Deshalb verhielten sich einzelne so rüpelhaft. Und da helfe auch keine Kamera, die alles überwache. Auch keine materiellen Anreize, denke ich, die den Gang zum Mülleimer honorieren. Wenn wir Menschen wie Roboter konditionieren, geben sie sich nur noch sozial, wenn sie gefilmt oder belohnt werden. Immerhin entsorgen bei uns noch viele ihren Abfall selbst. Zwar gibt es Ausnahmen. Sie kommen mitten aus unserer Gesellschaft und spiegeln unsere Wegwerf-Mentalität. Ja, wir produzieren alle zu viel Müll. Dagegen protestieren derzeit viele Jugendliche. Mit guten Gründen. Selbst im Basler Seminar für Soziologie weiss kaum jemand, wie das gering entlohnte Reinigungspersonal heisst.
Auch Kioske sind soziale Orte
Zurück vor Ort, der Rheinfelder Bahnhof ist wieder blitz blank. Eine junge Frau aus dem europäischen Osten bittet in der Unterführung um Almosen. Ich gehe an ihr vorbei zum belebten Stadtpark. Früh morgens putzt hier der Gemeindearbeiter Josef Joller die Toiletten. Im Sommer schliesst er sie abends um 23 Uhr. Bei einem Kontrollgang musste der gelernte Mechaniker einen glühenden Einweg-Grill löschen. Bei den kreativ angelegten Spielgeräten achtet er besonders darauf, dass keine Scherbe herum liegt. Der Park liegt ihm am Herzen.
Die Gemeinde lehnte eine lukrative Überbauung des Parks ab. Sie weitet ihn sogar mit einem Begegnungspfad nach Deutsch Rheinfelden aus. Inspiriert durch die alte Rheinbrücke, die seit über zehn Jahren als Fussgängerzone dient. Von Peter Scholer initiiert. Der ehemalige 68er wehrte sich schon in den 70er-Jahren mit der »Gewaltfreien Aktion« erfolgreich gegen ein Atomkraftwerk (AKW). Ab 1985 wirkte er als Stadtrat. Im Buch »Brennpunkt Kaiseraugst« (2013) überliess ihm sein Widersacher Ulrich Fischer, der das geplante AKW koordinierte, das Schlusswort. Die Geste symbolisiert, wie dialogisch zuweilen die Kultur der direkten Auseinandersetzung vor Ort funktioniert. »Wir übten, den Gegner nicht zu blamieren. So entstand ein Graswurzelteppich. Das half«, bilanziert Peter Scholer.
Am Freitag nimmt der Gemeindearbeiter Josef Joller im Werkhof jeweils kostenlos Altmetalle, Elektronik- und Elektrogeräte entgegen, die er sortiert und zum Recycling weiter reicht. Auf seinen Parkgängen ist er da, wenn jemand Hilfe braucht. Andere tun das auch. Alle an ihrem Ort. Maria Kym führte bislang den Kiosk an der Marktgasse. Kleine Ombudsdienste gehörten dazu. Auch Kioske sind soziale Orte. Zuspruch ist gefragt. Gleich neben dem Rathaus und der Gemeindebibliothek, die auch zu Debatten einlädt; zum Beispiel über den 68er-Aufbruch und neue soziale Bewegungen.
So öffnen sich neue Horizonte
Nach einem Anlass in der Gemeindebibliothek sprach mich Rudi Neumaier an. Der pensionierte Polymechaniker kümmert sich um Flüchtlinge. Das Staatssekretariat für Migration lancierte gerade Dutzende von Projekten, an denen sich Hunderte von Freiwilligen beteiligen. Flüchtlinge, die auch informelle Unterstützung erhalten, finden eher eine Ausbildung, Arbeit oder Wohnung. Die Zivilgesellschaft kooperiert mit öffentlichen Einrichtungen. Subsidiarität setzt Solidarität voraus, damit sie zum Tragen kommt.
Im Fricktal engagieren sich in neun Gemeinden 170 Freiwillige im Verein Netzwerk Asyl. Die Rheinfelder Gruppe unterrichtet 80 Migrierte in Deutsch und Mathematik. »Ich sehe immer wieder, wie Menschen aufblühen, wenn sie eine Aufgabe finden«, sagt Rudi Neumaier. Im Frühjahr 2019 lud er mich an ein Treffen ein. Freiwillige erzählten von ihren Erfahrungen. Eine junge Frau wollte beispielsweise den Mann nicht heiraten, den ihr Vater ausgesucht hatte. Todesdrohungen der Familie trieben sie zur Flucht, sind aber in der Schweiz kein Asylgrund.
Gerd Löhrer kam nach dem Zweiten Weltkrieg als Bub in eine Baracke im Rheinfelder Auffanglager. Seine Lage verbesserte sich, nachdem sein Vater eine Stelle als Schreiner fand. Im Juni 1968 eröffnete Gerd Löhrer als Präsident der Basler Studentenschaft ein friedliches Meeting. Er wehrte sich mit 2000 Studierenden dagegen, Hochschulen in Lernfabriken umzuwandeln und bekam dafür offiziell Urlaub vom Militärdienst, den er nachher verweigerte. Später arbeitete der Ökonom 27 Jahre als Journalist und stellvertretender Chefredaktor für das Schweizer Wirtschaftsmagazin »Bilanz«, bis ihm ein neuer Verleger kündigte. Eine Welt brach zusammen. Doch dann bot ihm just der »Blick« an, für die Boulevard-Zeitung zu schreiben. Sogar kritische Beiträge zum unfairen Welthandel, der Menschen in südlichen Kontinenten besonders benachteiligt und
— nebst der Klimaerwärmung — zur Flucht treibt.
Die 68er-Bewegung hielt die internationale Solidarität als konkrete Utopie hoch. Sie postulierte eine soziale Globalität, die noch weitgehend auf sich warten lässt. Wie die autonomen Freiräume, die die 80er-Jugend subito verlangte. Die Klimastreiks kommen nun ziemlich pragmatisch daher. Jugendliche wollen ein gutes Leben führen. Das Geld drängt in der kapitalistischen Schweiz dorthin, wo es sich maximal vermehren lässt. Es kolonisiert auch unseren Alltag. Dabei geht viel Menschliches verloren. Trotzdem verhalten sich viele »gewöhnliche Leute« recht sozial. Sie fragen, was wirklich sinnvoll ist im Leben. Ohne sie würde unsere polarisierte Gesellschaft auseinander brechen. Drum imponiert mir, wie kleine Gemeinwesen funktionieren und Zivilcouragierte sich engagieren und selbst kritisch reflektieren.
Die Lehrerin Martina Montañés beschrieb mir, wie sie beim Einkaufen mit Blick auf die Klimaerwärmung darauf achtet, woher die Waren kommen. Sie nimmt frisches Gemüse und Früchte aus der Region. Einmal haderte sie mit jemandem, der Fischstäbchen aus Neuseeland im Korb hatte. Aber dann fragte sie sich, ob es ihr beim Einkaufen darum geht, sich moralisch über andere zu erheben. Zudem bemerkte sie, wie sich auch im Konsum soziale Klassen zeigen. Ja, bei kleinen Spaziergängen vor Ort und im alltäglichen Verhalten manifestiert sich, was sich gesellschaftlich und in der weiten Welt tut. Da offenbaren sich soziale Gegensätze, die wir in den Blick nehmen und angehen müssen, individuell und strukturell. So öffnen sich weitere Horizonte.