Anita Niegelhell und Manfred Omahna
Präsentation der Feldforschungsergebnisse beim Griesgram-Stadtteilfest.
Video © Manfred Omahna 2017. Dauer 1:00:20, (Foto: Omahna)
Die Akteur_innen sind Gabriele Hiti (Theater im Bahnhof TiB, Graz), Eva Hofer (Theater im Bahnhof TiB, Graz), Stefan Schmitzer (Autor) und Thorsten Zimmermann (Kontrabass).
Vorgelesen werden Auszüge aus den Beiträgen zum Band gries. texte. Vom Gedanken zum Text sowie von Ergebnissen der Lehrveranstaltung Workshop Ethnographische Methoden am Institut für Kulturanthropologie der Universität Graz vom Sommersemester 2017, Leitung Manfred Omahna.
Das Video dokumentiert die Veranstaltung im Rahmen des Beteiligungsprozesses »Griesplatz« in Kooperation mit dem Institut für Wohnbau und dem Stadtplanungsamt der Stadt Graz vom 22. Juli 2017.
Die Reichengasse — Durchgang ins Nirgendwo
Ich stehe bei den Bushaltestellen in einem durchsichtigen Wartehäuschen und schaue mich um. Verkehr, Autos – stehende, fahrende, Menschen — gehende, stehende, wartende, und Lärm von allen Seiten, Bewegung wohin ich blicke. Es riecht nach Benzin, Öl, Autoabgasen. Ich suche nach einem Ruhepunkt auf diesem Platz, aber vergeblich.
Mein Blick fällt auf ein Lebensmittelgeschäft. Die Fassade wirkt unscheinbar, Werbetafeln an der Wand für aktuelle Sonderangebote, durch die Fenster kann ich erkennen, dass nicht viel Betrieb herrscht. Neben dem Geschäft, nördlich anschließend, öffnet sich ein schmaler Durchgang. Schnurgerade und vom Platz weg in Richtung Osten. Der Durchgang zieht mich an. Ich verlasse mein sicheres Wartehäuschen und gehe langsam, vorsichtig, über die Straße und auf den Eingang dieses Durchbruchs in der Häuserfront zu.
Die Gasse ist knapp zwei Meter breit und verläuft schnurgerade zwischen den hohen Hauswänden. Die Wand rechts scheint vor nicht allzu langer Zeit neu gestrichen worden zu sein. Hell, fast weiß, aber schon zieren einfärbig dunkle Graffiti den Anstrich. Ich gehe langsam in die Gasse. … Mit jedem Schritt wird der Lärm des Platzes hinter mir leiser, ich habe den Eindruck, mich vom Leben zu entfernen. Außer mir ist niemand in der Gasse. Leere Dosen, Glasscherben, Papier am Boden, dann Erbrochenes — Ekel. Es riecht nach Urin, nach Alkohol. … Die Wand des Hauses wechselt von hell verputzt über zu einer rohen roten Ziegelwand.
Es gibt keinen anderen Ausgang, keine Haustür in diesem Schlauch. Ich erreiche das Ende der Reichengasse. Links öffnet sich die Quergasse trichterförmig zur Brückenkopfgasse — dort herrscht Verkehr und Leben. Rechts verengt sie sich und führt zu einer weiteren Hauswand. Die Wand ist bunt bemalt, mit einer Szene, wie sie sich im Studio zutragen könnte: Ein Sportler plagt sich sichtlich mit einem schweren Gewicht.
Genug. Ich gehe wieder zurück und zähle meine Schritte bis zum Platz. Ich gehe fast wie in einer Schlucht. Das gläserne Wartehäuschen und dahinter, auf der anderen Seite des Platzes, ein Wohnhaus in Gelb, wenig attraktiv. Menschen queren mein Blickfeld, Autos, dort vorne ist das Leben. Nach vierzig Schritten werden die Geräusche des Platzes lauter, sehen kann ich aber noch nicht viel mehr. Sechzig Schritte — ich habe das Ende der Reichengasse erreicht. Der Griesplatz hat mich wieder.
Karl Pfeifer
Gekürzte Wiedergabe von Karl Pfeifer, ‘Die Reichengasse — Durchgang ins Nirgendwo’, in gries.texte. Vom Gedanken zum Text. Ergebnisse eines ethnographischen Schreibworkshops, herausgegeben von Anita Niegelhell und Manfred Omahna. Forum Kulturanthropologie und Architektur 5 (Deutschfeistritz bei Graz: Forum Kulturanthropologie und Architektur, 2016), 28f.