Joachim Schlör
Es war einmal ein seltsamer Sänger in Berlin, anfangs der neunziger Jahre tauchte er öfter im Fernsehen auf. Eines seiner schrägen Lieder, ungelenk vorgetragen und von solch banalen Dingen wie Rhythmus oder Takt recht unberührt, hieß: »Ich fahr’ so gerne mit der U-Bahn durch Berlin« (das U-U-U schön langezogen). Allerdings sind U-Bahn-Fahrten doch zumeist zielgerichtet und enthalten wenig poetisches Potential. Seit einiger Zeit fahre ich aber so gerne mit der Ringbahn um Berlin herum und lade Johanna anlässlich ihres Geburtstags ein, mich dabei zu begleiten.
Eine Bahnstrecke ohne Endstation! Eine knappe Stunde Fahrt ohne Ziel (außer dem der Ankunft am Ausgangspunkt). Ein Rundherum von West nach Süd nach Ost nach Nord, markiert von den vier Bahnhöfen, die einheitliche Namen tragen: Westkreuz, Südkreuz, Ostkreuz — na ja, und Gesundbrunnen (Hartmut Mehdorn wollte einst ein »Nordkreuz« einführen, hat aber das Weddinger Beharrungsvermögen — wie manches Andere in dieser Stadt – unterschätzt). Die Ringbahn umschließt das Kerngebiet der Zweistadt und gibt dem Fahrgast Gelegenheit, zu schauen, wie das Zusammenwachsen gelingt. Oder nicht. Auch die Ringbahn hat ja zwei Richtungen und erlaubt es dem Reisenden, die Dinge so herum oder doch vielleicht anders herum zu sehen, von links und von rechts, vom Zentrum nach Draußen oder von der Peripherie hinein in die Mitte.
Meine Anfangsstation ist, weil die U6 von Alt-Tegel nach Mariendorf (über den Mehringdamm) dort hält, der Bahnhof Tempelhof. Da könnte man natürlich gar nicht erst einsteigen wollen, denn gegenüber dem Bahnhofseingang liegt eine jener Flächen, für deren auffallendste Eigenschaft – die Leere – Berlin in den letzten Jahren so bekannt und so attraktiv geworden ist: die heute so genannte »Tempelhofer Freiheit«, eine riesige Fläche, die es erwachsenen Menschen erlaubt, sich mitten in der Stadt wie Kinder aufzuführen, zu radeln, zu joggen, Drachen steigen zu lassen und Kräuter anzupflanzen. Mir war es lieber, als hier noch Flugzeuge starten und landen konnten, von Tempelhof bin ich oft und gerne aus Berlin hinaus- und wieder dahin zurückgeflogen. Das Luftbrücken-Denkmal erinnert uns auch an die Zeit der Blockade und an die Lebensmittel-Lieferungen der Allierten in Großbritannien und den Vereinigten Staaten an das hungernde Berlin von 1948, und meine prinzipielle Zuneigung zu diesen beiden Ländern, die natürlich erst später entstand, wurde von den Berichten darüber untermauert. (Ich bin gar nicht so »links«.) Man hätte nach der weit verfrühten Schließung des Flughafens 2008 die große Fläche auch bebauen können, wenigstens zum Teil, das hat aber ein Referendum zugunsten der Kindereien verhindert, obwohl die Stadt günstige Wohnungen braucht.
Weg. Rein in den Bahnhof, rauf auf die Trasse, und los geht’s. Wenn die S-Bahn kommt. Das tut sie schön alle zehn Minuten am Tage, und wir fahren nach Osten. Wer rechts sitzt, schaut hinaus (links liegt das alte Flugfeld) und hat Einblick in die Industrie- und Gewerbelandschaft, die sich zwischen Kreuzberg und Neukölln auftut. Hotel Berliner Bär. Möbellager, Autohäuser, Werkstätten, auch Schulen und Versorgungseinrichtungen. Spaziert bin ich diese (ganze) Strecke erst einmal, und sowohl beim Gehen wie beim Fahren fällt mir auf, wie krass der Unterschied zwischen dem Berlin im Inneren des Rings und dem Berlin jenseits davon ist. Noch, der Druck wird ja größer, und der »Luxus«, innerhalb des Rings zu wohnen, wird bald werbesprachlich durch den Charme des Lebens am Rande, im Grünen, ersetzt werden. Für Tempelhof müsste man auch aussteigen – Ullsteinhaus! Heimatmuseum Mariendorf! –, aber das bleibt alles rechts liegen. Voraus: Hermannstraße. Kopftuchmädchenland in den zerstörerischen Phantasien der neuen Rechten, Döner-Paradies, Drogenkiez, »no-go-area« in den Anschauungen — die ja keine sind, weil sie es sich nicht anschauen — von Thilo Sarazzin und Beatrix von Storch. Von oben sieht das genauso friedlich und bunt aus, wie ich es auch unten meist erlebe. Noch am Rand, noch bezahl- und bewohnbar, unrenovierte Häuser bis auf die Gegend, die nahe an den Spielplatz grenzt – darüber könnte ich mehr sagen, aber es klingelt schon und wir fahren nach Neukölln. Blick von oben auf die Karl-Marx-Straße, die einst Heimat so vieler schöner Läden war. Wie viele davon mussten in den letzten Jahren schließen, weil gierige Hausbesitzer weil gierige Hausbesitzer den schnellen Gewinn mehr schätzten als den kulturellen Reichtum, der aus dem Austausch von Waren und Informationen und Grüßen entsteht. (Ich bin gar nicht so »rechts«.) Südlich ginge es jetzt schon Richtung Britz, Buckow, Rudow, dann Schönefeld.
Eine leichte östliche Krümmung führt Richtung Sonnenallee. Bemerkenswert, dass wohl mehr Leute, vor allem außerhalb Berlins, das kurze »untere Ende der Sonnenallee« durch den Film von Leander Haußmann besser kennen als die ganze lange Straße, die vom Hermannplatz herkommt und — wenn man, was auch einen Text wert war (Jörg Sundermaier, Die Sonnenallee, Berlin 2016), mit dem Bus M41 fährt — weiter nach Osten reicht. Lohnt sich auch. Jetzt wird es aber interessant für mich, denn die Strecke bis Treptower Park führt nicht nur über die ehemalige Grenze, sondern auch über ebendiesen Park, in dem im Jahr 1896 die Internationale Gewerbe-Ausstellung stattfand, die nach dem Willen des Kaisers keine »Weltausstellung« sein sollte, auf der aber Heinrich Loewe aus Magdeburg, verkleidet in orientalischem Kostüm, im Rahmen des Dorfes »Alt-Kairo« den Besuchern die jüdischen Siedlungen in Palästina vorstellte und dort angebauten Wein kredenzte. Davon berichtet der (gar nicht so) humoristische Schriftsteller Sammy Gronemann in seinen Erinnerungen, und ich habe das große Glück, in diesem Jahr nicht nur Frank Schlöffels wunderbare Dissertation über Heinrich Loewe, sondern auch mit dem Theaterwerk und dem Roman Tohuwabohu die ersten beiden Bände einer Gronemann-Gesamtausgabe auf dem Markt erscheinen zu sehen.
Nächster Halt Ostkreuz. Auf dem Weg dorthin bieten sich dem Auge links und rechts Einblicke in die Berliner Wasserlandschaft, hier der ehemalige — leider aufgegebene — Osthafen, der »Molecular Man« von Jonathan Borofsky, Gelände der noch nicht ganz zustandegekommenen, allzu investorenfreundlichen »Media Spree«, gegen die vor einigen Jahren eine sehr schöne Demonstration mit bunten Booten stattfand, dann die Oberbaumbrücke, einstige Grenze, gegen deren Wiedereröffnung als Verbindung zwischen Ost und West das alternative Kreuzberg heftig protestierte — mir sind Investoren so suspekt wie hartköpfige Verkehrsverweigerer —, dann der Blick auf das östliche Zentrum mit Rotem Rathaus und Fernsehturm. Im Niemandsland auf der rechten Seite hat vor einigen Jahren der Transit Verlag sein schönes Buch über die Spree vorgestellt, die Bruchbude von damals wird gerade renoviert, wie hier überhaupt viel gebaut wird, an der Rummelsburger Bucht und in Alt-Stralau. Geht man die Spree entlang Richung Osten, kommt man am Eierhäuschen vorbei, das noch immer auf seine Wiederherstellung wartet. In Fontanes Stechlin besucht Woldemar von Stechlin mit der Familie von Barby, dem Vater und den Töchtern Melusine und Armgard, zwischen denen er sich entscheiden soll, mit dem Dampfer von der Jannowitzbrücke her, vorbei an der Liebesinsel, das »sogenannte Lokal«, und den wunderbaren Dialog über die Bedeutung von Namen (Liebesinsel versus Rummelsburger Bucht, Melusine oder Armgard) zitiere ich jetzt nicht, empfehle aber die Lektüre. Nach einigen hundert Metern erreicht man den zauberhaft überwachsenen Spree-Park, ein verlassenes Amusemang, das tote Riesenrad ist auch von der Bahn aus gut zu sehen.
Frankfurter Allee. Die große Magistrale in Fortführung der Karl-Marx- (und einstigen Stalin-) Allee bin ich früher oft gefahren, bis hinaus nach Frankfurt an der Oder und über die Oder hin nach Polen, das nur gute achtzig Kilometer entfernt ist und vielen Berlinern dennoch fremd. Vor einiger Zeit bin ich, eingeladen von einer Künstlergruppe, die Nachts in der großen Stadt in ein urbanes Piktogramm übersetzt und mich dann interviewt hat, mit dem Bus in umgekehrter Richtung gefahren, vom äußeren Ende der großen Stadt jenseits von Marzahn wieder zurück ins Zentrum, über das Bordmikrofon hörte ich meine eigene Stimme von Berlin erzählen, und der Weg ins Zentrum kam mir überhaupt nicht russisch, sondern sehr amerikanisch vor. An der Storkower Straße bin ich zur Vorbereitung dieses Beitrags überhaupt erstmals ausgestiegen, von dort kann man eigentlich nur anderswohin laufen, zum Beispiel zu den alten Schlachthöfen, in denen sich wenigstens übergangsweise Künstler eingerichtet haben, die man aber besser noch vom nächsten Bahnhof her erreicht, der Landsberger Allee. Jetzt biegt die Bahn schon von Norden nach Nordwesten und umfährt Prenzlauer Berg mit den Stationen Greifswalder Straße, Prenzlauer Allee und Schönhauser Allee. Mehr als anderswo wird einem hier der Unterschied zwischen den Lebenswelten innerhalb und außerhalb des Rings bewusst, dem Zentrum zu ist es wuselig, geschäftig, bunt, nach und nach auch ethnisch bunt, nach draußen hin wird es stiller, wohnlicher, brandenburgischer. Sehr schön ist die Anlage der Veterinär- und Lebensmittelaufsicht an der Prenzlauer Allee, auch die Zweigstelle Prenzlauer Berg des Heimatmuseums Pankow ist einen Besuch wert. Das Leben an der Schönhauser Allee — »schau mal, wie herrlich die Sonne heut’ lacht, schraub’ Dich doch mal in die Höh’, lass’ uns ein Stück laufen, mein Schatz, an der Schönhauser Allee« (Barbara Kellerbauer) — ist dem gelernten Kreuzberger etwas fremd, oder vielleicht sage ich besser, der Kreuzberger Schwabe zuckt schon sehr zusammen, wenn er die »Prenzlschwäbin« reden hört. So hat jeder sein Berlin, in das er nicht geht. Immerhin ist hier einer der wenigen Orte in der Stadt, in der orthodoxe Juden sich niedergelassen haben und jüdisches Leben, jenseits von kurzlebigen Festivals, wieder sichtbar wird. Ob es irgendwann dazu kommt, dass sie sich die Einrichtung einer Sabbatgrenze, eines eruw, wünschen wie in London? Erläuterungen zum Begriff und zur kulturellen Praxis bietet Gronemanns Tohuwabohu.
Wieder die ehemalige Grenze, jetzt geht es schon Richtung Gesundbrunnen, und bei allem Respekt für die große Leistung des Zusammenwachsens: Einen krasseren Unterschied als den zwischen der Kunstwelt Prenzlauer Berg und dem real life Wedding kann man sich kaum denken. Der Wedding »kommt«, heißt es seit Jahren, wird »kommen«, ganz bestimmt, so wie Neukölln ja auch »gekommen« ist, aber der Wedding, habe ich den Eindruck, denkt gar nicht daran. Er ist schon da. In der schönen Anlage der Lichtburg, die von der Familie Wolffsohn wieder hergestellt wurde, hat für eine Weile Moritz Ege gewohnt, der nicht nur Professor am Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen ist, sondern auch mein Neffe – schöne Grüße an dieser Stelle. Der Moritz mag den Wedding auch, das gefällt mir. Ich bin im Juni 1980 in die Tegeler Straße 32 gezogen, unweit des S-Bahnhofs Wedding, und habe dort Berlin kennengelernt: Steckschloß, Hinterhaus, Seitenflügel, Kohleheizung, kein Bad, Klo eine halbe Treppe höher. Die Wohnungssituation hat sich seither deutlich verbessert, aber ich gehe immer wieder einmal dort vorbei und schaue, ob der Kasten mit den Maden beim Fachgeschäft für Fischerei noch hängt, und wieviel von meinem zwanzigjährigen Ich noch erhalten blieb.
Westhafen! Nach dem Nacht-Buch wollte ich ein Wasser-Buch schreiben, hatte auch schon einen Vertrag von der formidablen Annalisa Viviani erhalten, musste den aber kündigen, weil Anderes geschrieben werden sollte, Israelisches, Deutsch-jüdisches, Berlinisches. Die Kopien der Akten über die Seemannsmission — die im Westhafen lange Zeit ein Büro, eine Anlaufstelle für Schiffsleute hatte — habe ich aber behalten. Schiffe gibt es noch, auch Container, während die hier im Speicher zwischengelagerten Zeitschriften aus der Staatsbibliothek wieder fortgezogen sind, so dass kaum noch Besucher den Weg an diesen magischen Ort finden. Berlin-Spandauer Schiffahrtskanal, Havel, Elbe, Hamburg, Cuxhaven, Amerika — hier könnte die Reise beginnen. Wir fahren aber mit unserer Ringbahn (die Dir, liebe Johanna, inzwischen hoffentlich auch vertraut geworden ist) nach Moabit. So ganz klar ist es nicht, weshalb der seit 1685 besiedelte und 1861 nach Berlin eingemeindete Stadtteil diesen biblischen Namen trägt, irgendwie wird es mit den vom Großen Kurfürsten nach Brandenburg eingeladenen Hugenotten zusammenhängen, aber ob sie in der »terre de Moab« eine Zuflucht sahen wie einst Elimelech im Land der Moabiter, oder ob sie den Ort doch eher als »la terre maudite« empfanden, weiß man nicht. Moabit ist großartig. Es ist, wenn man vom Flughafen Tegel herkommt, das erste Stück richtige Stadt, hier sitzt beim Bahnhof Beusselstraße der Berliner Großmarkt, von dem auch meine Markthalle am Marheinekeplatz beliefert wird. Hier gibt es die erstaunlichsten Läden, Schaufenster, Inschriften, Stuhlversammlungen, so dass ich immer wieder mit Kamera und Notizblock hierher zurückkomme.
Über Jungfernheide geht es nach Westend, und wenn ich den Gegensatz zwischen Wedding samt Moabit (das großenteils aber zu Nord-Charlottenburg gehört) oben als krass bezeichnet habe, so müsste ich jetzt eine fast noch krassere Formulierung finden, um den Unterschied nach Westen hin deutlich zu machen. Statt eines Hafens gibt es hier Ruderregatta und Entenfüttern, statt eines Großmarkts das Charlottenburger Schloß, und von Armut oder (kreativem) Prekariat kann angesichts der Park- und Villenlandschaft von Westend nicht — sagen wir: nicht sichtbar — die Rede sein. Hier kann man zum Georg-Kolbe-Museum gehen und weiter zum Friedhof Heerstraße, auf dem Hans Sahl begraben liegt, an den ich immer wieder denken muss. Im hohen Alter aus der New Yorker Emigration nach Deutschland — und, of all places, Tübingen — zurückgekehrt mit seiner Frau Ute, die schon neben ihm liegt, hat er das Weltgeschehen aufmerksam verfolgt. Ich war im Februar 1991 von einem Aufenthalt an der Universität Tel Aviv nach Tübingen zurückgekehrt und hatte mich im Schwäbischen Tagblatt für den Golfkrieg der USA und für den Schutz Israels ausgesprochen, was im friedensbewegten Städtchen gar nicht gut ankam. Dann klingelte das Telefon, und eine Stimme sagte: »Hier spricht Hans Sahl. Junger Mann, Sie haben recht.« Sahls Autobiographie in zwei Bänden, Memoiren eines Moralisten und Das Exil im Exil, gehört zum Wichtigsten, was im 20. Jahrhundert geschrieben wurde.
Ach, war das schön, Tübingen den Rücken zu kehren und wieder nach Berlin zu kommen, 1992! Über Messe-Nord geht es mit der Ringbahn nach Westkreuz, das passt gerade gut, denn in Westkreuz kreuzt sich eben die Ringbahn mit der Stadtbahn, die von Osten her über die Innenstädte Ost und West Richtung Potsdam führt, wo ich zwölf Jahre lang am Moses Mendelssohn Zentrum gearbeitet habe. Hier kann ich mit Freuden berichten, dass ich mich wohl mit kaum einem anderen Text so unbeliebt gemacht habe wie mit »Ein Ethnologe in Potsdam«, einem Bericht über die Fremdheiten, die mir dort entgegenkamen, die preußische, die DDR-liche, auch die nachwendische, einem Text, der in einer Festschrift für meinen damaligen Direktor erschien und ihm das Feiern etwas verdorben hat; so hoffe ich wenigstens. Wahrscheinlich war es ihm egal.
Halensee. Das obere Ende des Kurfürstendamms, wo man viel Russisch hören (und sehr gut essen und trinken) kann, und dann geht es schon wieder Richtung Südosten, über den Hohenzollerndamm zum Heidelberger Platz und Bundesplatz – irgendwo dazwischen und etwas weiter südlich lag die Künstlerkolonie in der Laubenheimer Straße, wo Manès Sperber wohnte, und wo er 1933, zusammen mit Walter Zadek, von den Nationalsozialisten verhaftet wurde. Eine Konferenz über Manès Sperber zu organisieren, war meine erste Aufgabe in Potsdam, und zur Vorbereitung habe ich mit Gisela zusammen alle Orte seines Wirkens in Berlin ausfindig zu machen versucht – eine Stadterkundung, die alles weitere Arbeiten und Scheiben geprägt hat. Bevor die Konferenz stattfinden konnte, durfte ich in Paris Madame Manès Sperber, Jenka, besuchen, die in der Wohnung in der rue St. André des Arts seine Bibliothek aufbewahrt hatte, darunter zahlreiche Widmungsexemplare, und die mich beim Mittagessen einer Prüfung in Sachen Sperber (Galizien und das Shtetl, Wien im Weltkrieg, Berlin und die Massendemonstrationen von Nazis und Kommunisten, Partisanenkrieg in Jugoslawien, Antistalinismus und »Renegatentum«, und viel, viel Literatur) unterzogen hat, die mir immer in Erinnerung bleiben wird.
Vom Bundesplatz wiederum ist es nicht weit bis zur Niedstraße, wo nicht nur Günter Grass und Uwe Johnson gewohnt haben, sondern wo auch Rolf Lindner wohnt. Von seiner Stadtforschung habe ich viel gelernt, der Pflasterstein von »Sensing the Street« steht im Regal der Straßenbücher und wird immer wieder geöffnet. Grüße also auch dahin. Der Innsbrucker Platz ist kein Vorbild gelungener städtischer Planung, das lässt sich von oben deutlich sehen. Aber er bildet eine Tür nach Schöneberg, wo noch ein Bahnhof gleichen Namens folgt, in den Nachbarbezirk also, wo ich in der Crellestraße beim ebbes Maultaschen, gerauchte Schinkenwurst und Trollinger kaufe, wenn sich die schwäbische Sehnsucht meldet, ein- oder zweimal im Jahr. Dann ist es auch schnell wieder gut. In Schöneberg ist die lokale Erinnerung an die Verfolgung der Juden unter dem Nationalsozialismus im Berliner Vergleich vielleicht am weitesten entwickelt, was nicht nur das von Renata Stih und Frieder Schnock entwickelte, vom damaligen Alltag berichtende und in den heutigen Alltag eingreifende Mahnmalsprojekt bezeugt, sondern vor allem die Ausstellung im Rathaus Schöneberg, die das Leben »ehemaliger Berliner« — aus Berlin vertriebener Juden — und ihre neuen Kontakte mit der Stadt dokumentiert. Das ist gerade mein Thema, »Missing Berlin«, eine Arbeit über die mit Berlin verbundenen Gefühle, wie sie in Korrespondenzen der Emigranten mit ihrer Heimatstadt zum Ausdruck kommen. Mag sein, dass mich die englische Entfernung von Berlin für dieses Thema sensibilisiert hat, aber ich bin auch schon anfangs der neunziger Jahre mit großem Interesse dem Besuchsprogramm des Berliner Senats gefolgt und habe mit Viola Virshubsky aus Tel Aviv das Berlin ihrer Kindheit besucht (wie kurz darauf ihre neue Heimat auf der Ben-Yehuda-Straße in Tel Aviv). Und ich habe zusammen mit dem Schriftsteller Yoram Kaniuk am Bayrischen Platz gesehen, wie Schöneberger und Besucher gemeinsam an einem heißen Sommertag die aus dem Archiv kopierten und auf Tischen arrangierten Dokumente lasen. Das war die Zeit, in der Kaniuk sein herrliches trauriges Buch Der letzte Berliner geschrieben hat, meine letzte Lektüre-Empfehlung für heute.
Denn jetzt kommt nur noch Südkreuz, die letzte Schnittstelle, an der die Ringbahn die anderen durch die Stadt und aus ihr hinaus führenden S-Bahnlinien trifft, in diesem Fall die Nord-Süd-Verbindung, die von Oranienburg oder Bernau her durch die Stadt reist, Nordbahnhof, Oranienburger Straße, Friedrichstraße, Brandenburger Tor, Potsdamer Platz, Anhalter Bahnhof, Yorckstraße (über die Brücken) und dann hinaus nach Teltow oder Blankenfelde. Auch Fernzüge halten hier, wie oben in Gesundbrunnen, und auch der 248er, der direkt zu meiner Markthalle fährt und dann zur Warschauer Straße. So reist die Ringbahn andauernd und ausdauernd um die große Stadt herum, alle zehn Minuten, stellt Verbindungen her, öffnet uns die Stadt und hilft uns, ihr — und uns selbst — zu begegnen. Dann wieder Tempelhof und zurück an den Mehringdamm, wo ich diesen Satz aufschreibe.
Literatur
Gronemann, Sammy. 2000 [1920]. Tohuwabohu. Mit einem Nachwort von Joachim Schlör (Leipzig: Reclam).
Gronemann, Sammy. 2018. Gesammelte Dramen. Herausgegeben von Jan Kühne. Condition Judaica. Gronemann, Kritische Gesamtausgabe, Band 1 (Berlin etc.: de Gruyter).
Fontane, Theodor. 2001. Der Stechlin. Roman. Herausgegeben von Klaus-Peter Möller. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 17 (Berlin: Aufbau Verlag).
Kanuik, Yoram. 2002. Der letzte Berliner (München: List).
Sahl, Hans. 2008. Memoiren eines Moralisten. Das Exil im Exil (München: Luchterhand Literaturverlag).
Schlöffel Frank. 2018. Heinrich Loewe. Zionistische Netzwerke und Räume (Berlin: Neofelis).
Sundermeier, Jörg. 2016. Die Sonnenallee (Berlin: be.bra Verlag).