Brigitta Schmidt-Lauber
Trefflich ließ sich die letzten Jahre angesichts einer beachtlichen Themenkonjunktur1 über Mobilität in der Gesellschaft diskutieren und streiten, ob das postulierte Zeitalter der Mobilität in der Spätmoderne tatsächlich jenes der Sesshaftigkeit ablöste2. Fest steht: Die Welt und die Menschen sind in Bewegung und dies nicht erst im 20. und 21. Jahrhundert. Unterwegs waren sie schon immer.
Die kulturwissenschaftliche Mobilitätsforschung hat facettenreiche Einblicke in mobile Lebenswelten in Geschichte und Gegenwart geliefert und die Kulturwissenschaft auch methodisch inspiriert.3 Sie unterscheidet dabei zwischen Mobilitätstypen wie Migration4, Asyl, Flucht oder Diaspora; aber auch Pendeln oder diverse touristische Praktiken wie Zweitwohnsitze oder Fernreisen finden rege wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Mehrörtigkeit zeigt sich also in ganz verschiedenem Gewand, wobei die Vorstellung scharfer Abgrenzbarkeit bei derartigen Typologien eine Mär ist und gerade die aktuellen semantischen Verschiebungen von Begriffen wie Asyl und Flucht in der Gesellschaft uns das Grausen lehren.
Johanna Rolshoven hat zur Mobilitätsforschung innerhalb der Empirischen Kulturwissenschaft5 bekanntlich besonders intensiv und facettenreich beigetragen.6 Nicht zufällig, so möchte ich behaupten, treibt es sie gerade in diesem Feld um, erklären sich unsere Forschungsvorlieben doch auch biographisch und gesellschaftlich.7 Da sind einerseits zeitgeschichtliche Ereignisse zu nennen wie zunächst die unser aller Aufmerksamkeit bindenden, herausfordernden Dramen rund um die heraufbeschworene »Flüchtlingskrise« der Jahre 2015 und 2016 — ein Unwort, das selbst einen lohnenden Gegenstand der Analyse darstellt. Aber auch persönliche Lebensumstände bzw. eigene Routinen schärfen wissenschaftliche Blicke. Johanna Rolshovens beruflicher Werdegang erforderte auch von ihr zahlreiche Standortwechsel: Ihre biographische Stationen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz sowie seit ihrer Berufung 2009 nach Graz auch in Österreich verschafften ihr Einblicke in unterschiedliche Alltagswelten, dank derer sie Mobilitätsroutinen und -semantiken differenzieren und beschreiben konnte. So verdanken wir (nicht zuletzt) ihr Hinweise darauf, dass Bevölkerungsstatistiken nur sehr unzureichend gelebte Alltage und gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln und differenzierter Interpretation bedürfen.8 Etwa entstehen schiefe Bilder fortschreitender gesellschaftlicher Singularisierung und Vereinsamung,9 wenn berufstätige Familienväter mit Zweitwohnsitz am Arbeitsort als Einzelhaushalt gezählt und besteuert werden. Typologisierungsfallen entstehen auch im internationalen Vergleich, wenn zum Beispiel in der Schweiz all jene Personen als Pendlerin oder Pendler bezeichnet werden, die »zum Aufsuchen des Arbeitsplatzes ihr Wohngebäude verlassen«, wie es im schweizerischen Bundesamtsdeutsch für Statistik heißt10, während in Deutschland Pendlerin bzw. Pendler Menschen sind, die täglich mindestens eine Gemeindegrenze überschreiten, um zur Arbeit zu fahren.
Zweifellos stellt die Kenntnis verschiedener Lebenswelten und fremder Gesellschaften — ein ethnologisches Grundanliegen sozusagen — auch alltagsweltlich einen Erfahrungswert dar, der symbolisches Kapital zu verschaffen vermag. In der Wissenschaft kennen wir die Ideologie der (möglichst strapaziösen, langen und durch möglichst große Fremdheit herausfordernden) Feldforschung11. Doch auch gesellschaftlich lassen sich institutionalisierte und teils ideologisierte Formen kultureller Horizonterweiterung finden: In Namibia etwa entsenden Deutschsprechende unter dem Begriff der »Entbuschung« ihre Kinder nach Europa; in deutschen und österreichischen Mittelstädten wiederum gehört es zur normativen Vorstellung junger Menschen, wenigstens für eine Weile ihre ländlichen oder peripheren städtischen Wohnräume verlassen zu wollen oder zu müssen, um in der Großstadt zu leben12.
Johanna Rolshoven spricht mit Blick auf die Orte, um die herum Menschen heute ihr Leben organisieren, treffend von »verschiedene[n] Hiers«13, die für das gegenwärtige gesellschaftliche Leben — zumal in unseren Milieus und Berufsfeldern — zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Eines dieser von ihr avisierten »Hiers«, auf die ich im Folgenden fokussieren möchte, ist das Phänomen der Sommerfrische als spezifische Form der Mobilität. Sie entspricht in besonderer Weise auch ihrem eigenen Lebensmodus und eröffnet zugleich eine Schnittfläche unseres gemeinsamen gesellschaftlichen Kontextes in Österreich. Johanna Rolshoven hatte die Vorzüge der Sommerfrische schon lange vor ihrem Transfer nach Graz für sich entdeckt: Ihre Faszination von Südfrankreich, die sich auch in ihrer atmosphärisch dichten Dissertation manifestiert, mündete in eine Sommerbehausung ebendort.
Sommerfrische, das meint den sommerlichen Aufenthalt einer sozial verbundenen Personengruppe oder Einzelperson an einem anderen, in der Regel »ländlich« gelegenen Ort. In Österreich hat die Sommerfrische eine ganz besondere Verankerung und prägt den Jahresrhythmus des Landes spür- und fühlbar. Dieser schönen Institution bin ich gemeinsam mit Studierenden drei Semester lang nachgegangen und habe mit ihnen zahlreiche Spuren in unserer Umgebung gefunden. Ausgehend von fünf im Projektzusammenhang entwickelten Graphiken mit Zitatausschnitten von Gesprächspersonen14 möchte ich einige Kennzeichen dieser Institution skizzieren und die Sommerfrische damit all jeden schmackhaft machen, die sie noch nicht für sich entdeckt haben — ob als Forschungsfeld oder persönlichen Sommermodus.
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Sommerfrische ist eine etablierte gesellschaftliche Institution (nicht nur) in Österreich, die zunächst die Lebensgestaltung des städtischen Adels und der Oberschicht prägte, bald auch eine Praxis des Bürgertums wurde und sich schließlich in modifizierten Formen allmählich auch auf weitere soziale Milieus wie etwa die Arbeiterschaft (zumal im sozialdemokratischen Wien) ausdehnte. So ermöglichten es Einrichtungen wie das Gänsehäufel an der Donau oder andere Freizeitanlagen in und um Wien, aber auch formale Regelungen wie Urlaubsanspruch und infrastrukturelle Maßnahmen zur Erreichbarkeit von Naherholungsgebieten auch Familien des Arbeitermilieus, »Erholung in der Natur« — wenn auch in deutlich verkürzter Form — zu finden. Angeblich verschwand die Sommerfrische nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der rasant steigenden (Fern)Tourismusangebote. Im Unterschied zu dieser Einschätzung behaupte ich, dass die Institution der Sommerfrische die österreichische Gesellschaft auch in der Gegenwart noch prägt und sich in verschiedenen Milieus auf unterschiedliche Weise manifestiert.
Kennzeichnend für Sommerfrische sind routiniert jedes Jahr wiederkehrende, in der Regel mehrwöchige Aufenthalte an einem bestimmten, zumeist im ländlich-kleinstädtisch-dörflichen Raum gelegenen Ort (in einer bestimmten Pension oder Ferienwohnung oder einem bestimmten Hotel oder an einem regulären Zweitwohnsitz) außerhalb des dauerhaften Wohnortes. Oft erfolgt dies in Begleitung: Die Akteure sind meist familiär oder lebenspartnerschaftlich miteinander verbunden, wobei die jeweils sommerfrischelnden Personenkonstellationen historisch und lebenszyklisch variieren: In der Hochzeit der (bürgerlichen) Sommerfrische im 19. und frühen 20. Jahrhundert handelte es sich meist um die Mutter mit ihren Kindern, gegebenenfalls auch weitere Verwandte wie Großeltern oder Tanten, während der in der Stadt arbeitende Familienvater nur am Wochenende oder für kürzere Zeit zu Besuch kam. In wohlhabenden Familien begleitete auch eine Haushälterin oder ein Kindermädchen die Partie.
Sommerfrische verrät dabei auch die jeweilige gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen den Generationen und Geschlechtern einer Zeit und eines Milieus. Der Sommer und damit auch die mit neun Wochen sehr langen Sommerferien für Schulkinder in Österreich fordern speziell großstädtische Eltern zu einer Organisation des Sommers auf, die neben heute zunehmend angebotenen Feriencamps vielfach auf mehrwöchige Aufenthalte der Kinder und mitunter eines oder beider Elternteile bei Familienangehörigen »am Land« (speziell bei den Großeltern) setzt und setzte. Die Landverschickung der Kinder — mit oder ohne Eltern — zu den Großeltern oder zu anderen Verwandten ist freilich ein biographisch endliches, mitunter auch zyklisches Modell, das im fortschreitenden Jugendalter anderen Freizeit- und Sommerroutinen weicht, um gegebenenfalls mit zunehmendem Vermögen oder eigener Elternwerdung wieder entdeckt zu werden. Einerseits ist also eine Lebensumstands- und Altersspezifik, andererseits ein impliziter Generationenvertrag zu erkennen, in dem Betreuungsleistungen als in Österreich gesellschaftlich legitime Anspruchshaltung von Eltern an ihre Eltern enthalten sind und diese längst nicht nur staatlicher Zuständigkeit überantwortet werden. Die ebenfalls lange Zeit dominante geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung während der Sommermonate nimmt dagegen — so meine Beobachtung — speziell in mittelschichtigen Bildungsmilieus tendenziell ab.
Typologisch ist Sommerfrische eine Bewegung von der Stadt auf das »Land«, die der Erholung und Entspannung dient, aber durchaus auch Formen der Arbeit enthalten kann. Sie unterscheidet sich von der »Urlaubsreise« insofern, als diese oft variierende Destinationsziele hat, kürzer dauert und dem Erlebnis, der Bildung oder Abwechslung dient, aber in jedem Fall ein »außeralltägliches« Lebensgefühl vermittelt und eine Unterbrechung der Arbeit sowie des Alltags darstellt. Im Unterschied dazu stellt die Sommerfrische eine routinierte sommerlicher Praxis am gleichen Ort und in sozial bekanntem Umfeld dar, in der sich eine eigene Alltagsroutine mit eigenen Regeln einstellt. Sowohl bei der Wahl der Kleidung, in der sich ein Unterschied zwischen Stadt und Land manifestiert, als auch der Aktivitäten, der Tagesgestaltung und der Arbeitsroutinen gelten in dieser Zeit andere Regeln und Gewohnheiten. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert erstreckte sich die Sommerfrische teils von Pfingsten bis September. In diesem Fall besuchten schulpflichtige Kinder die Landschule, wo sie auch Freundschaften zu den Kindern der Landbevölkerung knüpften, zusätzlich erhielten manche privaten Musik- oder Schwimmunterricht. In Hinblick auf einen eigenen — anderen — Arbeitsrhythmus im Sommer drängt sich die Vermutung auf, dass die Institution der Sommerfrische nicht nur ein historisches Phänomen ist, sondern — als eine Mobilitätsform, die Arbeit im Unterschied zur Urlaubsreise nicht ausschließt — durch die Digitalisierung von Arbeitswelten mit steigenden Möglichkeiten des Teleworkings beziehungsweise Homeoffice-Vereinbarungen, so meine Hypothese, sogar an Bedeutung gewonnen hat. Postfordistische Arbeitsverhältnisse der Gegenwart, die in verschiedenen Berufssparten mit einer Flexibilisierung und Individualisierung der Arbeitsorganisation einhergehen, sowie digitale Kommunikationsmöglichkeiten führen zu saisonal unterschiedlichen Arbeits- und Lebensverhältnissen. Dadurch entstehen neue Möglichkeiten zu sommerlichen Abwesenheiten vom dauerhaften Arbeitsort.
Ein wesentlicher Motor der Genese der Institution waren die gesellschaftlichen Transformationen im Europa speziell des 19. Jahrhunderts mit gravierenden Veränderungen des Alltagslebens breiter Bevölkerungsschichten durch Urbanisierung und Industrialisierung, die sowohl mit Fortschrittsoptimismus als auch mit Zivilisationskritik angesichts der Lebensumstände in den stetig wachsenden Städten einhergingen. Die Ängste bündelten sich in Bildern rauchender Fabrikschlote, welche die Sorgen um Leib und Seele verdichteten und vor denen die Bürgerinnen und Bürger das Weite suchten. In dieser Situation versprach eine Gegenwelt Ausgleich, die zu ritualisierten Praktiken »in der Natur« wie Spaziergängen und Picknickfahrten, Ausflügen »in die Natur« und eben sommerlichen Aufenthalten »in der Natur« führte und sich auch in regelrechten »Möblierungen«15 der Landschaft durch Parkbänke mit Aussicht sowie Wanderwegen materialisierte. Die autobiographischen und literarischen Beschreibungen, aber auch Anleitungen für derlei Aktivitäten zeugen von Vorstellungen, durch die Aufenthalte »in der Natur« den »Zwängen« des Alltagslebens zu entkommen, ein »einfaches und gesundes« Leben in »freier Natur« führen zu können und darüber selbst »frei« zu sein. Dass freilich die bürgerlichen Routinen und Normen lediglich zu anderen Routinen am neuen Ort führten, hatte ich bereits erwähnt.16 Die Zuschreibungen wirken beharrlich. Bis heute evozieren Beschreibungen über (regelmäßige) Aufenthalte »am Land« idealisierte Bilder eines Lebens im »Einklang mit der Natur«, das mit Attributen wie »frei« und »gesund« einhergeht und das Erleben leitet.
Sommerfrische verweist zugleich auf eine besondere Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land, die durch die Topographie Österreichs mit der Bundeshauptstadt Wien als unumstrittenes Landeszentrum und Primatstadt, auf die das gesellschaftliche und politische Leben ausgerichtet ist, und andere Funktionen erfüllende und Positionen einnehmende ländliche Räume und Bundesländer nochmals unterstrichen wird. Die Verzahnungen zwischen Zentrum und peripheren Räumen sind in Österreich besonders ausgeprägt und materialisieren sich evident, wobei Stadt und »Land« nicht nur kontrastiv zu verstehende, sondern sich ergänzende Lebensräume darstellen. Auch Wienerinnen und Wiener pflegen rege Beziehungen zu ländlichen Räumen, sei es zu ihrer »Herkunftsregion«, sei es zu anderen Wahlorten. »Leben im Grünen« ist ein gesellschaftliches Ideal, das längst auch die Stadtplanung anleitet und durch laufende Klimawandeldiskussionen nochmals befeuert wird. Der Architekt Erich Raith von der Technischen Universität Wien weiß diesbezüglich zu berichten: »Laut Umfragen träumen 80 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher von einem Einfamilienhaus mit Garten auf dem Land.«17 Die Liegenschafts- und Vermögensaufteilung in Österreich lässt ohnehin schon einen hohen Anteil an Haus- und Grundbesitz erkennen: »Von den insgesamt 3,89 Millionen Hauptwohnsitzwohnungen in Österreich wurden im Jahr 2017 knapp die Hälfte in Eigentum (Haus oder Wohnung) und 43% in Haupt- oder Untermiete bewohnt.«18 Angesichts des demographischen Wandels mit sinkenden Geburtenraten erben mehr Menschen, die ihren Herkunftsort verlassen haben, ein Haus an einem anderen als dem Wohn- und Arbeitsort. Bei entsprechenden Arbeitsverhältnissen und Finanzvolumen können sie sich den Traum der Österreicherinnen und Österreicher damit tatsächlich realisieren, den Sommer »in der Natur« zu verbringen und sich dort in anderen Alltags- und Arbeitsroutinen einzurichten: »1,15 Millionen ‚Nebenwohnsitzfälle‘«, wie es im Amtsdeutsch heißt, wurden am 30. Juni 2012 in Österreich verzeichnet.19 Der Zweitwohnsitz-Trend ist offenkundig und kennzeichnet das gesellschaftliche Leben.
Ein Forschungsprojekt am Institut für Verkehrswesen der Universität für Bodekultur in Wien sah sich vor diesem Hintergrund und zumal angesichts des breit diskutierten Klimawandels veranlasst, »Sommerfrische-Potentiale« in Österreich im Rahmen der Regionalentwicklung auszuloten. Die Forschenden kamen zu dem Ergebnis, dass geradezu Dringlichkeit für Sommerfrische bestünde. Eine Website unter dem Titel »Refresh« listet aus dem Projekt generierte »Inspirationen für stadtnahe Tourismusdestinationen«20. Mit atmosphärischen Sommerbildern werden vor allem Städterinnen und Städter adressiert, wenn da steht: »Plötzlich ist sie da, die Sommerhitze. Diese ist besonders intensiv in den Städten zu spüren. Klimatische Veränderungen bewirken, dass sich mehr und mehr Hitzetage und Tropennächte aneinanderreihen. […] Entdecken Sie die neuen Trends und holen Sie sich Inspiration auf dieser Website!« Der guten alten Sommerfrische wird also ein »Comeback« attestiert, deren Legitimation mit höchst aktuellen Umweltsorgen erhärtet wird, aber keineswegs neu ist. Die wahrgenommene »Notwendigkeit« zur Erholung im Sommer wird aus alltagsweltlich und gesellschaftlich seit Langem etablierten Vorstellungen abgeleitet. Schon die Quellen, die wir aus den Anleitungen und Beschreibungen der Sommerfrische im 19. Jahrhundert fanden, sprechen von unerträglicher Hitze während des Sommers in der Stadt und einer auch gesundheitlich notwendigen sowie medizinisch verordneten »Erholung« und »Gesundung« auf dem »Land«.21
Mehrwöchige Abwesenheiten während der Sommerwochen, wie (lang) auch immer »Sommer« definiert wird, sind in Österreich vielfach üblich und gerade in unserem Berufsumfeld jedenfalls auffällig legitim: An österreichischen Universitäten sind die Monate Juli und August denkbar ungünstige, wenn nicht unmögliche Zeiträume, um Sitzungen anzuberaumen. Sommerfrische zeigt somit auch eine jahreszeitliche Arbeitsteilung gesellschaftlichen Lebens zwischen — emisch verstanden — »Stadt« und »Land« (wissend, dass es sich um unscharfe und relationale Kategorien handelt). In Wien kommt es zu einem regelrechten Bettenwechsel: Noch mehr Touristenmassen schleifen sich über den Ring, durch die Kärntner Straße oder durch Schloss Schönbrunn,22 während sich die Stadt von Teilen der ansässigen Bevölkerung entleert und für einige Wochen regelrecht verlassen wirkt. Nicht zufällig verabschieden sich Abonnementbesitzende von Sitznachbarn im Wiener Konzerthaus Ende Mai mit den Worten »Schönen Sommer! Wir sehen uns dann im Oktober wieder«, und auch die meisten Theater Wiens haben im Juli und August »Sommerferien«. Wie leer gefegt scheinen die Straßen der Stadt mitunter, zumindest von der jungen Bevölkerung der Schülerinnen und Schüler. Wien verfällt in einen (dem Stereotyp entsprechend: noch) gemächlicheren Modus. Im Unterschied zum Stadtzentrum, das wie die Innenstädte der Metropolen vieler Länder (sei es London, Wien, Paris oder Hamburg) zum Mekka eines zeitlosen, hochpreisigen internationalen Konsumpublikums mutiert, pausieren die Konsum- und Infrastruktur-Angebote der umliegenden Bezirke. Märkte jenseits der touristischen Hotspots, wie etwa am Naschmarkt, bieten ein reduziertes Angebot: Die Vielfalt an Ständen auf städtischen Wochenmärkten, die regionale Herkunft aus dem ländlichen Umland und Naturnähe suggerieren — wiewohl gerade Märkte historisch eine genuin städtische Einrichtung darstellen — dünnt sich sichtlich aus.
Einzelhandelsgeschäfte und einige Handwerksbetriebe erlauben sich längere Pausen und schließen — speziell im sogenannten migrantischen Einzelunternehmertum — über mehrere Wochen während des Sommers. Die städtischen Mietwohnungen werden verlassen, um für einige Wochen ins Wohnhaus im »Herkunftsland« zu fahren, wo mit Verwandten Familienfeiern abgehalten werden und sich nicht wenige Angehörige der zweiten oder dritten Generation fragen, wieso sie eigentlich den Großteil ihres Lebens in beengten Wohnverhältnissen leben, um für wenige Wochen an einem anderen Ort als dem Wohnort geradezu dem (Platz)Luxus zu frönen.23 Dabei wächst das Haus »in der alten Heimat« sukzessive und stetig durch immer neue Anbauten im Schachtelmodus. Inzwischen ist sogar von einer eigenen Architektur gestückelter Wohnbauten mit unterschiedlichen Stilelementen und Bauphasen in süd- und südosteuropäischen Ländern die Rede24 — auch dies ist eine Auswirkung der Institution Sommerfrische.
Die Aufgabenteilung zwischen Stadt und Land lässt sich auch am jährlichen Veranstaltungskalender ablesen: In den Sommermonaten bietet »das Land« allerlei Kulturaktivitäten, Großausstellungen, Freiluftkonzerte, Festivals beeindruckender Größe und Professionalität in ländlichen Gegenden im Waldviertel oder in kleineren Städten wie Krems, während das Kulturangebot der Hauptstadt und anderer größerer Städte sich reduziert und verändert.
Spätestens im September kehrt dann wieder eine andere Logik ins gesellschaftliche Leben ein. Die Hauptstadt belebt sich, Landhäuser werden seltener besucht und allmählich für die Leerstände im Winter vorbereitet, Veranstaltungskalender starten eine neue Saison und auch Schülerinnen und Schüler prägen wieder das alltägliche Straßenbild. Nicht zur Freude aller verläuft das gesellschaftliche Leben ab nun wieder in »normalen« Bahnen.
1. Vgl. Timo Heimerdinger und Marion Näser-Lather (Hg.), Wie kann man nur dazu forschen? Themenpolitik in der Europäischen Ethnologie. Buchreihe der österreichischen Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 29 (Wien: Selbstverlag des Vereins für Volkskunde, 2019).
2. Reinhard Johler, Max Matter und Sabine Zinn-Thomas (Hg.), Mobilitäten: Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung. 37. Kongress der deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Freiburg im Breisgau vom 27. bis 30. September 2009 (Münster u.a.: Waxmann, 2011).
3. Mobilität, auch im Sinn unterschiedlicher Praktiken des Gehens und an verschiedenen Orten Seins, haben wir nicht nur als breites Forschungsfeld und gesellschaftliches Alltagshandeln entdeckt, sondern machen es uns auch als methodisches Werkzeug zu eigen. Siehe die unterschiedlichen Begriffe und Anregungen in Texten zum dérive, nosing around oder Wahrnehmungsspaziergang, aber auch in Verknüpfung mit künstlerisch-interventionistischen Ansätzen im Sinne einer »Spaziergangswissenschaft« oder »Promenadologie« (vgl. Lucius Burckhardt, Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, herausgegeben von Markus Ritter und Martin Schmitz (Berlin: Schmitz, 2006).
4. Migration ihrerseits ist ein breiter Begriff, der ganz unterschiedliche Formen und Gründe der Bewegung fasst und in der Regel als Veränderung des Lebensmittelpunktes in einen anderen Nationalstaat ausgelegt wird.
5. Mit Johanna teile ich die Auffassung, dass der Name »Empirische Kulturwissenschaft« sehr viel präziser das Gegenstandsfeld und den Zugang unseres Faches fasst als manch anderer Name.
6. Voyage – Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung mit folgenden Schwerpunkten: 1 / 1997: Warum reisen?/Why do we travel? | 2 / 1998: Das Bild der Fremde/Travelling & imagination | 3 / 1999: Künstliche Ferien/Artificial holidays | 4 / 2001: Tourismus verändert die Welt – aber wie?/How does tourism change the world? | 5 / 2002: Reisen & Essen/Food & travel | 6 / 2003: Körper auf Reisen/Travelling bodies | 7 / 2005: Gebuchte Gefühle/Booked emotions | 8 / 2009: Tourismusgeschichte(n)/Tourism histories | 9 / 2011: Das Hotel/Sociotope Hotel | 10 / 2014: Mobilitäten!/Mobilities!
7. Die Verwobenheit wissenschaftlicher Forschungsinteressen mit persönlichen biographischen Stationen und lebensweltlichen Umgebungen ist uns gerade als reflexive Empirische Kulturwissenschaft sehr bewusst und lohnend anzuschauen. Siehe Rolf Lindner, ‘Wer wird Ethnograph? Biographische Aspekte der Feldforschung’, in Kulturkontakt – Kulturkonflikt. Zur Erfahrung des Fremden. Tagungsband zum 26. Deutschen Volkskundekongreß in Frankfurt 1986, herausgegeben von Ina Maria Greverus, Konrad Köstlin und Heinz Schilling. = Notizen zur Kulturanthopologie 28/1 (Frankfurt am Main, Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, 1988), S. 99-107; Antrittsvorlesung: Brigitta Schmidt-Lauber, Urbanitäten: Über kulturwissenschaftliche Aussichten in Wien, Wien, 10. Juni 2013; dies. (Hg.): Mittelstadt. Urbanes Leben jenseits der Metropole (Frankfurt am Main: Campus, 2010); dies. (Hg.), ‘Sommerfrische reloaded. Perspektiven und Zugänge eines Studienprojekts’, in Sommer_frische. Bilder. Orte. Praktiken, herausgegeben von Brigitta Schmidt-Lauber. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien, 37 (Wien: Verlag des Instituts für Europäische Ethnologie, 2014), S. 9-31.
8. Johanna Rolshoven, Justin Winkler, ‘Multilokalität und Mobilität’, Informationen zur Raumentwicklung (IZR) 1/2 (2009), S. 99-106, hier S. 104.
9. Wenn Arbeitende, die für berufliche Zwecke einen Nebenwohnsitz am Arbeitsort einrichten, als »allein lebend« kategorisiert werden und auch Paare, die ihre Beziehung gewollt und bewusst in zwei getrennten Haushalten organisieren, ebenfalls als Single-Haushalt gezählt werden, hinken die Kategorien für statistische Bevölkerungsordnungen offensichtlich vielerorts den gesellschaftlichen Transformationen und realen Lebensformen in der Gegenwart hinterher. Solche Lebensmodelle sind in einer Gesellschaft der Singularitäten, so Reckwitz, keineswegs unüblich, auch wenn die Statistik sie noch unzureichend widerspiegelt. Ähnliche Unschärfen zeigen statistische Kurven über Eheschließungen und Geburtenraten in vielen Ländern Europas, die in den Medien zu regelmäßigem Aufschrei und apokalyptischen Phantasien führen und an der Lebens- und Beziehungsrealität vieler Menschen in der Gegenwart vorbeigehen. Modelle für gesellschaftlich als legitim anerkannte und gelebte zwischenmenschliche Beziehungen unterliegen laufend einer Aushandlung und Transformation, wie auch die endlosen Debatten um juristisch und sozial legitime Paarkonstellationen für die Institution »Ehe« zeigen.
10. Bundesamt für Statistik, ‘Pendlermobilität’, in Mobilität und Verkehr, <https://www. bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/mobilitaet-verkehr/personenverkehr/pendlermobilitaet.html> [aufgerufen 15.5. 2019]
11. Justin Stagl, ‘Feldforschung als Ideologie’, in Feldforschungen. Berichte zur Einführung in Probleme und Methoden, herausgegeben von Hans Fischer. = Ethnologische Paperbacks (Berlin: Reiner, 1985), S. 289-310.
12. Georg Wolfmayr, Lebensort Wels. Alltägliche Aushandlungen von Ort, Größe und Maßstab in der symbolisch schrumpfenden Stadt. = Ethnographie des Alltags, 5 (Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2019); Anna Eckert, Brigitta Schmidt-Lauber und Georg Wolfmayr, Aushandlungen städtischer Größe. Mittelstädte vermarkten, leben, erzählen. = Ethnographie des Alltags, 6 (Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2019 – im Druck).
13. Johanna Rolshoven, ‘Zwischen den Dingen: der Raum. Das dynamische Raumverständnis der empirischen Kulturwissenschaft’, Schweizerisches Archiv für Volkskunde 108 (2012), S. 156-169, hier S. 166.
14. Graphiken Daniela Schadauer, © Institut Europäische Ethnologie Wien/Studienprojekt Sommer_frische.
15. Silke Göttsch, ‘»Sommerfrische«. Zur Etablierung einer Gegenwelt am Ende des 19. Jahrhunderts’, Schweizerisches Archiv für Volkskunde 98 (2002), S. 9-15.
17. Vgl. Marlene Nowotny, ‘Wissenschaft schnuppert Landluft’, Ö1-Wissenschaft, <https://science.orf.at/stories/2971384>, 12.4.2019.
18. Statistik Austria, Wohnen. Zahlen, Daten und Indikatoren der Wohnstatistik (Wien 2018), S.11.
19. Vgl. NN, ‘Zweitwohnsitz: Das kleine (Alb-)Traumhaus im Grünen’, Die Presse, Print-Ausgabe 26.08.2012 und https://diepresse.com/home/schaufenster/design/1282898/Zweitwohnsitz_Das-kleine-AlbTraumhaus-im-Gruenen [aufgerufen 12.4.2019]
20. REFRESH! Inspirationen für stadtnahe Toursimusdestinationen, Universität für Bodenkultur Wien, http://sommerfrische-neu.boku.ac.at [aufgerufen 3.5. 2019]
21. Alexandra Rabensteiner, ‘»Wunderhübsch ist’s – reizend – wo soll ich beginnen?«, Sommerfrische – Wiener Kindheitserinnerungen um 1900’, in: Sommer_frische. Bilder. Orte. Praktiken, herausgegeben von Brigitta Schmidt-Lauber. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien, 37 (Wien: Verlag des Instituts für Europäische Ethnologie 2014), S. 87-113.
22. Saison: Mai bis Oktober, besonders im Juli und August sind die Nächtigungszahlen laut der Hochrechnung Mai-Oktober 2018 am höchsten, vgl. IMM/Tourismusforschung & Data Analytics, Hochrechnung Mai-Oktober 2018, https://www.austriatourism.com/fileadmin/user_upload/Media_Library/Downloads/Tourismusforschung/2018G_Sommersaison_Naechtigungsstatistik_Hochrechnung_ZusFass.pdf [aufgerufen 12.4. 2019]
23. Vgl. Silke Meyer, ‘Remittances und transnationales Kapital’, in Wirtschaften. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, herausgegeben von Karl Braun, Claus-Marco Dieterich, Johannes Moser und Christian Schönholz (Marburg: MakuFEE e. V. 2019 – im Druck).
24. Stefanie Bürkle (Hg.), Migration von Räumen. Architektur und Identität im Kontext türkischer Remigration (Berlin: Vice Versa, 2016).